Ein deutscher Wandersommer
Cleo nur das Neue, Ungewohnte scheute oder grundsätzlich ein Problem mit dem Bootfahren hatte, so wie manche Hunde mit dem Autofahren. Ich hoffte natürlich auf Ersteres, und das aus zweierlei Gründen. Der eine waren die Kilometer, die nun vor uns lagen: Man sieht vom Fluss aus nämlich einiges, was vom Ufer aus verborgen bleibt. Viele Tiere nehmen einen Menschenauf dem Wasser nicht als Gefahr oder Störfaktor wahr, als wäre er ein Stück Treibholz, das den Fluss hinuntertreibt. Eine Erfahrung, die ich schon sehr häufig gemacht habe. Ein Reh zum Beispiel bleibt am Ufer stehen, hört zwar auf zu äsen und äugt dir nach, aber es flieht nicht. Ähnlich ist es, wenn man mit dem Auto an einer Wiese mit Rehen vorbeifährt. Die heben manchmal noch nicht einmal den Kopf, sondern äsen einfach weiter. Rehe und auch andere Tiere nehmen den Menschen offenbar nur dann als Gefahr wahr, wenn er auf zwei Beinen daherkommt. Umgekehrt funktioniert das ebenso. Deshalb können Safaritouristen vom offenen Jeep aus Löwen aus nächster Nähe beobachten. Solange sie im Auto bleiben, werden sie von den Tieren nicht als Beute identifiziert. Das ist schon eigenartig. Möglicherweise ist es eine Frage der Evolution. Die Evolution arbeitet ja sehr, sehr langsam, und vielleicht hatten die Tiere schlichtweg noch nicht genügend Zeit, sich auf Boote und Autos einzustellen. Der zweite Grund waren meine künftigen Reisen. Vielleicht würde ich ein weiteres Mal, wie schon 1991 und 2005, auf dem Yukon durch Nordamerika und Kanada reisen wollen. Im Jahr 2005 hatte mich im Frühjahr für gut drei Wochen mein älterer Sohn Erik, während der Sommerferien dann die ganze Familie begleitet. [4] Wer aber damals die ganze Reise über bei mir war, war Cita.
Nach einiger Zeit beruhigte sich Cleo zum Glück und beobachtete interessiert die Umgebung. Es ging durch die landschaftlich unheimlich reizvollen Saaleauen. In den nächsten Stunden sahen wir einen Mäusebussard über unskreisen, Bisame – der gebräuchlichere Name Bisamratte ist irreführend, da der Bisam zur Mäusefamilie gehört – an uns vorbeischwimmen, Graureiher mit ihren hübschen, schwarzen Schopffedern durch die Uferzone staksen, Wasseramseln auf der Suche nach Fliegenlarven im Flachwasser stochern, einen Eisvogel in seinem herrlich bunten, schillernden Gefieder nach einem Fisch tauchen und Kolkraben. Der Kolkrabe, der, man möchte es nicht glauben, zu den Singvögeln zählt, war als angeblicher Schädling über Jahrhunderte verfolgt worden und vor gut sechzig Jahren in weiten Teilen Mittel- und Westeuropas ausgerottet. Heute ist er wieder häufig anzutreffen und zählt zu den »ungefährdeten« Tierarten. Auch Eisvögel – es lebt in ganz Mitteleuropa nur eine einzige der insgesamt neunzig Arten umfassenden Familie der Eisvögel – waren zu Tausenden getötet worden, weil ihre prächtigen Federn bei den Damen als Hutschmuck und bei den Anglern zur Herstellung künstlicher Fliegen sehr gefragt waren. Heute ist der Eisvogel in Deutschland streng geschützt und der Bestand zwar relativ klein, aber einigermaßen stabil. Anlass zur Freude besteht dennoch nicht, weil sein Lebensraum – er braucht ganzjährig offenes Wasser, da er sich von Fischen, Wasserinsekten, Kleinkrebsen und Kaulquappen ernährt – durch den Ausbau und die Regulierung von Bächen und Flüssen, das Zuschütten von Tümpeln und die Trockenlegung von Feuchtgebieten immer kleiner wird. Außerdem benötigt er zum Brüten steile Uferwände aus Sand, Lehm oder Ton, in die er seine Bruthöhlen graben kann.
Eisvogeljunge zeigen ein sehr interessantes und ganz außergewöhnliches Verhalten: Kommt ein Elternteil zum Füttern, stellen sie sich in der Bruthöhle in Reih und Glied auf, was aufgrund des engen Raums allerdings eher zu einem Halbkreis oder Kreis gerät. Das Junge, das der Brutröhre, also dem Weg, der zum Eingang führt, am nächsten steht, wird als Erstes gefüttert. Danach setzt es in der Brutröhre einen Kotstrahl ab und stellt sich hinten wieder an, ein Futterkarussell quasi. Das ist wirklich erstaunlich, denn bei allen anderen Vögeln, egal ob Reiher, Rohrdommel, Eule oder Schwarzstorch, setzt sich immer das Junge durch, das am lautesten schreit und den Schnabel am weitesten aufreißt. Das schwächste Junge hat kaum eine Chance, an Futter zu kommen, wird von den Geschwistern attackiert und drangsaliert, verendet irgendwann und wird aus dem Nest geworfen. Eine Erklärung für das ungewöhnliche Verhalten des
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