Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Ein deutscher Wandersommer

Ein deutscher Wandersommer

Titel: Ein deutscher Wandersommer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andreas Kieling
Vom Netzwerk:
Gartenzäune, in Höfe, in jede Gasse, ob da nicht jemand wäre, mit dem ich mich ein bisschen unterhalten könnte. Und wenn das nichts brachte, ging ich in den Kaufmannsladen – sofern es einen gab. Auch das nichts Grenzgebiettypisches: In unserem Dorf in der Eifel gibt es ebenfalls kein Lebensmittelgeschäft, weshalb wir für unsere Einkäufe etliche Kilometer fahren müssen. Meist waren es kleine Geschichten, die die Menschen mir erzählten, nichts Tiefgründiges oder Weltbewegendes, aber doch irgendwie recht spannend.
    »Und wo wollen Sie mit der Kamera hin?«, wurde ich im Gegenzug oft gefragt.
    »Ich wandere die innerdeutsche Grenze entlang, vom tschechisch-bayerisch-sächsischen Dreiländereck bis hoch zur Ostsee.«
    »Zu Fuß?«, fragten sie dann völlig überrascht nach.
    Da dieses »Zu Fuß?« eigentlich »So weit?« heißen sollte, verkniff ich mir regelmäßig die Bemerkung, dass man eigentlich immer mit den Füßen wandert. Zwar wussten nur wenige, wie lang genau die Strecke war, nur dass es sehr weit war, war allen klar. Selbst in unserer, ich nenne es mal, Autofahrergesellschaft, in der man in anderen Entfernungen oder Dimensionen denkt als früher. Wenn man jemanden fragt, wie weit es bis zu dieser oder jener Stadt ist, bekommt man zur Antwort beispielsweise: »Um die zwei Stunden«, und damit sind zwei Stunden Autofahrtgemeint. Nicht viel, aber wenn man es wandert – im Schnitt haben Cleo und ich am Tag so zwischen 25 und 35 Kilometer geschafft –, ist es eine ganz andere Sache. Und die innerdeutsche Grenze ist ja nicht dreihundert, sondern fast 1400 Kilometer lang! Dass man derartige Entfernungen zu Fuß zurücklegt, dieser Gedanke passt einfach nicht in unsere Welt, unsere Gesellschaft. In Deutschland sind wir aufs Auto geeicht. In anderen Weltgegenden ist es der Eselskarren, das Kamel oder, wie in Kirgisistan, das Pferd. Wenn ich dort auf der Suche nach Marco-Polo-Argalis, sehr seltenen und vor allem sehr scheuen Riesenwildschafen, auf einen Punkt meiner Landkarte deutete und fragte, wie weit es bis dahin sei, hieß es etwa: »Zweieinhalb Tagesritte«.
Der König der Wälder
    Von Kirgisistan zurück in den Thüringer Wald. In Sonneberg schnupperten Cleo und ich etwas Stadtluft. Sonneberg war schon zu DDR -Zeiten eine große Spielzeugstadt, wovon das Deutsche Spielzeugmuseum kündet. Die Firma Piko baute – und baut bis heute – hier ähnlich wie Märklin und Fleischmann detailgetreue Modelleisenbahnen. Die »Weltspielwarenstadt« ist eine der wenigen Städte, wo der Pendlerstrom von »West« nach »Ost« verläuft, also entgegen der sonst üblichen Richtung. Viele Menschen aus den strukturschwachen Gebieten Frankens haben hier ihren Arbeitsplatz.
    Was uns nach Sonneberg zog, war nicht die Stadtluft, auch nicht das Spielzeugmuseum, sondern die Hoffnung auf eine Thüringer Bratwurst. Bald entdeckte ich einen Bratwurststand, an dem reger Betrieb herrschte. Während ich im Kreis anderer genüsslich die Wurst verdrückte,zählte mir Cleo jeden Bissen vom Mund ab. Mit einem kurzen Nicken gesellte sich ein Mann zu uns, der sich, um nicht seinen schicken Anzug zu bekleckern, ziemlich weit nach vorn beugte. Das war für Cleo eine eindeutige Botschaft: Der will mir was geben. Und was macht sie? In dem Moment, wo der Mann in das eine Ende der Wurst beißen will, stellt sie sich auf die Hinterbeine, schnappt sich das andere Ende und zieht die Wurst aus dem Brötchen! Während der Mann noch verdutzt auf das nun leere Brötchen in seiner Hand schaute, brach unter den Umstehenden Gelächter aus. Natürlich kaufte ich dem Mann eine neue Wurst, und damit war es gut. Thüringer haben nämlich eine Menge Humor.
    Cleo aber hatte sich mit dieser Aktion die volle Aufmerksamkeit gesichert.
    »Das ist aber ein hübscher Kerl!«, hieß es nun nicht zum ersten Mal und: »Oh, ist das ein schöner Kerl!«
    Cleo war in ganz Thüringen immer ein »Kerl«.
    »Nein, nein«, stellte ich wie unzählige Male davor klar, »er ist eine sie, eine Französin und heißt Cleo.«
     
    Gut dreißig Kilometer nach Sonneberg machten Cleo und ich einen Abstecher in das Biosphärenreservat Vessertal, das ein Stück abseits der früheren Grenze liegt. Das hatte natürlich einen Grund: Hirsche.
    Der Rothirsch (in der Jägersprache Rotwild, im Allgemeinen aber meist nur Hirsch genannt) ist Mitteleuropas größtes frei lebendes Wildtier – vom Wisent einmal abgesehen. Ursprünglich in offenen Landschaften beheimatet, zog sich die sehr

Weitere Kostenlose Bücher