Ein deutscher Wandersommer
ist daher außer von der genetischen Veranlagung oder der Wilddichte auch vom Nahrungsangebot abhängig. Wenn man etwa Hirsche in Gehegen mit Kraftfutter mästet und sie regelmäßig entwurmt, schieben sie zum Teil unglaubliche, bizarre Geweihe. Hirsche mit gewaltigem Kopfschmuck haben zwar im wahrsten Sinn des Wortes schwer daran zu tragen – ein Geweih kann bis zu zehn Kilogramm wiegen, in Ausnahmefällen noch mehr –, strahlen damit aber Stärke aus, nach dem Motto: »Ich hab da oben so ’n richtigen Weihnachtsbaum drauf, leg dich bloß nicht mit mir an«, und haben somit in der Brunftzeit sehr gute Chancen. Ein Geweih sagt also sehr viel über die Grundkondition und die Gesundheit eines Tieres aus. Ist ein Tier krank, hat es Parasiten, eine Schussverletzung oder Nährstoffprobleme, dann ist sein Fell struppig – das ist wie bei uns Menschen auch: Wenn wir mehr Haare verlieren als üblich, die Haare stumpf sind oder die Haut juckt, stimmt meistens was nicht, sind wir krank, gestresst oder psychisch angeknackst –, und es wächst nur ein kurzes, oft sogar verkrüppeltes Geweih.
Die erste Sprosse, dicht über dem Rosenstock – dem Knochen direkt am Schädel –, heißt Augsprosse, unmittelbar dahinter kommt die Eissprosse, weiter oben die Mittelsprosse, dann die Wolfssprosse und schließlich gegebenenfalls eine Krone. Bei der Bezeichnung eines Hirschs wird doppelt gezählt, also was er insgesamt an Enden hat. Ein Achter hat an einer Stange Augsprosse, Eissprosse, Mittelsprosse und dann den letzten Spieß, aber nie eine Krone, denn eine Krone muss immer mindestens drei Enden haben. Nicht jeder Hirsch schafft es zum kapitalen 16- oder 18-Ender. Der stärkste Hirsch, den ich jemals gesehen habe, war ein »ungerader« 18-Ender. Er hatte auf einer Seite neun und auf der anderen sieben Enden. Das macht natürlich nur 16, aber in der Jägersprache zählt die Stange mit den meisten Enden. Der kapitalste Hirsch der letzten Jahre, von dem berichtet wurde, war ein 28-Ender aus Mecklenburg-Vorpommern. Der unter Jägern berühmte 66-Ender von Friedrich August I . von Sachsen – besser bekannt als August der Starke –, dessen Geweih noch heute im Schloss Moritzburg in der Nähe von Dresden zu besichtigen ist, war nach heutiger Rechnung »nur« ein 27-Ender, da Enden erst ab zwei Zentimeter gezählt werden. Die Legende erzählt, dass eine Ladung Schrot, die das Tier in der Wachstumsphase des Geweihs abbekam, für die vielen Enden verantwortlich war, die in Wahrheit krankhafte Wucherungen waren.
Viele glauben immer noch, so viele Enden ein Hirsch hat, so viele Jahre ist er alt. Das ist Unsinn. Tatsächlich ist es so: Im ersten Lebensjahr ist ein Hirsch ein Spießer, das heißt, seine Geweihstangen sind noch nicht verzweigt. Im zweiten Lebensjahr ist er meist schon ein Sechser, im dritten Jahr kann er durchaus schon ein Kronenhirsch werden, und auf der Höhe seiner Kraft – zwischen dem zwölften und 14. Lebensjahr – hat er womöglich ein gigantisches Geweih. Im Alter verfällt nicht nur sein Körper – er bekommtein graues, müdes Gesicht, einen Schlabberhals, einen Senkrücken und einen Hängebauch, wird knochiger, also alles wieder wie bei uns Menschen –, sondern in gewisser Weise auch das Geweih. Wenn er dann so alt ist, dass er auf dem Brunftplatz keine Chance mehr hat und sich nicht mehr paaren kann, hat er unter Umständen wieder ein so kleines Geweih wie als Spießer, nur dicker.
Zwischen Ende Januar und Ende Februar bilden Knochenfraßzellen am Rosenstock eine Sollbruchstelle. Und irgendwann schüttelt sich das Tier oder springt über einen umgestürzten Baum, dann macht es »Knack«, und eine oder beide Stangen fallen ab. Schon einen Tag später hat sich wieder eine Keimscheitelschicht, eine nährstoffreiche Haut, über dem Rosenstock gebildet und fängt ein neues Geweih zu wachsen an. In der ersten Zeit ohne Geweih sind die Hirsche ein bisschen irritiert, fühlen sich irgendwie nackt und hilflos, weil sie natürlich merken, dass sie ihrer Waffe, ihres Kopfschmucks beraubt sind. Das Geweih ist während der Wachstumsphase von einer stark durchbluteten, samtähnlichen Haut umhüllt, die der Jäger Bast nennt. Ende Juli, Anfang August, wenn das Geweih ausgewachsen ist, wird die Blutzufuhr unterbrochen. Dann beginnt die Haut zu jucken, und die Hirsche versuchen sich ihrer durch Reiben und Scheuern – in der Jägersprache: Schlagen und Fegen – an Bäumen und Büschen zu entledigen. Dabei nehmen sie keine
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