Ein deutscher Wandersommer
Fallschirmjägern hatte man uns eingebläut, dass eine militärische Auseinandersetzung mit dem Klassenfeind unvermeidlich sei, offen wäre letztlich nur der Zeitpunkt. Mit dem Wissen um diese Einstellung der DDR hatte ich bis zum Schluss nicht an eine Wiedervereinigung geglaubt. Ich dachte, das kann nicht sein, die NATO , der Warschauer Pakt, zwei solche Extreme. Das ist wie Rot und Schwarz, wie Heiß und Kalt, wie Sommer und Winter, das geht einfach nicht. Auch war uns in der GST gelehrt worden, dass die Russen die größten Luftlandestreitkräfte der Welt hatten, worauf wir Fallschirmjägeranwärter natürlich unglaublich stolz waren. Wir durften sogar einmal einem Manöver mit dem Namen »Waffenbrüderschaft« auf einem großen Truppenübungsplatz in Mecklenburg zusehen. Es war ein nebliger Herbsttag, und damals gab es, ich wiederhole mich hier bewusst, noch kein GPS, nur relativ einfache Navigationssysteme. Trotzdem setzten die Russen eine komplette Division aus der Luft ab. Panzer, leichte Panzerfahrzeuge, Jeeps, Sturmgeschütze und etliche TausendFallschirmjäger landeten präzise da, wo sie landen sollten. Eine unglaubliche Leistung!
Die Luftballons mit Propagandaflugblättern fielen mir ein, die in meiner Kindheit bei Westwind zu uns herüberwehten. Und der »Deutsche Soldatensender 935«, kurz DSS . Seine Sendungen wurden 1972 im Zuge der einsetzenden Entspannungspolitik eingestellt, aber ältere DDR -Bürger werden sich noch an sein Programm erinnern. Der DSS war ein DDR -Sender, der sich als Piratensender ausgab, dessen Sendeanlagen in Westdeutschland stünden. Mit neuester Rock- und Popmusik, die in den 60er-Jahren von den westlichen Rundfunkanstalten kaum gespielt wurde, zielte der DSS eigentlich auf die westdeutschen Soldaten als Zuhörer, aber natürlich hörten auch wir im Osten gern diesen Sender. Zwischen Musik von Deep Purple und Alice Cooper, den Beatles oder den Rolling Stones, von Slade oder Creedence Clearwater Revival wurde zum Beispiel gemeldet, dass der soundsovielte Starfighter abgestürzt war, der Pilot Frau und drei Kinder hinterließ. Tatsächlich gab es bei der Bundesluftwaffe in den 60er- und 70er-Jahren fast dreihundert Abstürze der F -104, die bald den Beinamen »Witwenmacher« erhielt. Mit solchen Meldungen sollte in erster Linie der Eindruck erweckt werden, dass das Waffensystem des Westens nichts tauge.
Die Täuschungsmanöver der DDR -Partei SED (Sozialistische Einheitspartei Deutschlands) trieben manchmal wirklich bizarre Blüten, so etwa im März 1970. Damals kam Bundeskanzler Willy Brandt zum ersten deutsch-deutschen Gipfeltreffen mit Willi Stoph, damals Vorsitzender des Ministerrats, nach Erfurt, und zwar mit dem Zug. Ich war damals junger Pionier und weiß noch, dass wir an jenem Tag zu irgendwelchen Pionierarbeiten eingeteilt wurden, damit nur ja keiner auf die Idee kam, sich an die Bahnstrecke zu stellen und Willy Brandt zuzuwinken. Die Eisenbahnstrecke verlief von Bonn über Kassel, Bebra, Herleshausen, Eisenach und Gotha nach Erfurt, die heutige Landeshauptstadt von Thüringen. In Thüringen war damals alles ziemlich heruntergekommen, und da sagten sich die Genossen: Das sieht hier wirklich nicht gut aus, lasst uns mal die Häuser anstreichen. Da Farbe aber knapp war, konnten nur die Fassaden aufgehübscht werden, die zur Eisenbahnlinie zeigten. Doch wie sich schnell herausstellte, würde selbst dafür die Farbe nicht reichen. Was tun? Irgendwann fiel einem pfiffigen Genossen ein, dass man, wenn der Zug nahe an Häusern vorbeifuhr und man sich nicht gerade den Hals verrenkte, ja nur einen Teil der Fassaden sah, also wurden diese Häuser, je nach Entfernung zur Bahnlinie, nur bis zum zweiten, dritten oder vierten Stockwerk angestrichen, und darüber schaute der alte, schmutzige Ostputz raus. Völlig schräg.
Ich setzte mich mit Cleo ins Gras, schaute über die wunderschöne Landschaft und versuchte mir vorzustellen, wie es wäre, wenn da jetzt ein paar Tausend Panzer ankämen. Ich hatte noch in Erinnerung, wie in meiner Kindheit die Luft dröhnte und der Boden vibrierte, wenn nur hundert Panzer daherrollten. Wenn die Situation zwischen NATO und Warschauer Pakt eskaliert und es zu einem Krieg gekommen wäre, einem atomaren, bakteriologischen oder chemischen – es gab ja damals schon ABC -Waffen –, wäre Deutschland wieder zu einem Schlachtfeld geworden, mit wahrscheinlich apokalyptischem Ausmaß. Bei dem Gedanken bekam ich eine Gänsehaut, denn wie oft waren wir
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