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Ein deutscher Wandersommer

Ein deutscher Wandersommer

Titel: Ein deutscher Wandersommer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andreas Kieling
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dass sie nicht bemerkten, wie eine Kreuzotter es sich im Rucksack bequem machte. Während der Fahrt zurück in die Stadt kroch die Schlange aus dem Rucksack, den sich die Frau umgeschnallt hatte, und biss die Frau in den Hals, die daraufhin tot vom Moped fiel. Das ist völliger Quatsch. Zwar ist das Gift der Kreuzotter giftiger als das der Diamantklapperschlange, aber eine Kreuzotter hat nur einen sehr geringen Giftvorrat, und sie injiziert bei einem Biss so gut wie nie die gesamte Menge, da sie ansonsten bis zur Auffüllung ihres Giftvorrats wehrlos wäre. Um einen gesunden Menschen mit einem Durchschnittsgewicht von 75 Kilogramm zu töten, bräuchte es das Gift von mindestensfünf Kreuzottern. Todesfälle sind daher sehr unwahrscheinlich. Oft passiert gar nichts. In anderen Fällen kann sich um die Bissstelle herum eine Schwellung bilden. Da das Gift der Kreuzotter ein Nervengift ist, kann es in manchen Fällen zu Atemnot und Herzbeschwerden kommen, unter Umständen zu Lähmungen, speziell bei kleinen Kindern, alten oder kranken Menschen.
    Schlangen gehören wie Spinnen zu den Tieren, die bei vielen Menschen eine unbestimmte, irrationale Angst auslösen – bei der Kreuzotter verstärkt durch die falsche Einschätzung ihrer Gefährlichkeit –, weshalb sie oft erschlagen werden. Giftschlangen sind aber nicht dazu da, Menschen zu töten. Sie erfüllen andere Aufgaben, wie das Vertilgen von Kleinnagern. In der Regel flüchten Schlangen nämlich bei der Annäherung eines Menschen, wobei die Kreuzotter allerdings gern erst einmal liegen bleibt, zischt und sich darauf verlässt, dass der andere das Weite sucht. Verteidigungsbisse macht sie nur, wenn sie angegriffen oder in die Enge getrieben wird.
    Als Torsten und ich uns auf den Weg zu den Kreuzottern machten, war es zwar noch morgendlich kalt, aber wenigstens schien die Sonne, sodass wir mit etwas Glück eine Kreuzotter beim Sonnenbad erwischen konnten.
    Die insgesamt nur etwa zwei Hektar große Fläche, auf der an mehreren Stellen seit Längerem Kreuzottern leben, liegt interessanterweise direkt am Kolonnenweg. Die Kreuzotter, die wir an der ersten Stelle entdeckten, verschwand, sobald sie uns wahrnahm, in ihrer Höhle. An der zweiten Stelle fanden wir – nichts. Die Kreuzotter an der dritten Stelle vertraute wohl auf den Schutz des Reststücks rostigen DDR -Stacheldrahts, der wenige Zentimeter über ihr quer zum Weg durchs Gras verlief, denn sie blieb einfach liegen.
    Natürlich wollte ich sie fangen, um sie aus der Nähe betrachten zu können. Nach allem, was ich vorhin über die Giftigkeit von Kreuzottern geschrieben habe, kein sonderlich gefährliches Vorhaben – eigentlich. Doch auf einem meiner Drehs war ich auf einer kleinen Insel in Indonesien von einer Seeschlange, deren Gift zu den stärksten Schlangengiften überhaupt zählt, gebissen worden und, da es weit und breit keinen Arzt, geschweige denn ein Antiserum gab, fast daran gestorben. Später sagten mir die Ärzte, es wäre keine gute Idee, in meinem Leben noch einmal mit einem starken Gift, schon gar einem Schlangengift in Berührung zu kommen. Ich gehöre also zu den wenigen Menschen, denen das Gift der Kreuzotter gefährlich werden kann. Auf der anderen Seite sind Schlangen am frühen Morgen noch kältestarr und Kreuzottern zudem relativ langsam – wohlgemerkt »relativ«.
    Torsten sagte nichts zu meinem Vorhaben, weder »Mach mal!« noch »Lass es!«, allerdings wusste er nicht, was in Indonesien passiert war. Kurz schwankte ich noch zwischen der Angst vor einem erneuten Schlangenbiss und dem Wunsch, die Kreuzotter zu fangen, dann zwang ich mich zu höchster Konzentration und schob meine Hand in Zeitlupentempo an die Schlange heran. Verdammter Stacheldraht, fluchte ich innerlich, denn das Tier lag mit seinem Kopf genau unter einer der Drahtspitzen. Dann eine letzte, blitzschnelle Bewegung, und – zack! – hatte ich sie hinter dem Kopf und drückte sie leicht gegen den Boden. Im nächsten Moment spürte ich eine Bewegung an meiner Hand. Eine zweite Kreuzotter! Mir blieb vor Schreck fast das Herz stehen. Ich hatte mich so sehr und so ausschließlich auf diese eine Schlange konzentriert, dass ich die andere, die nur wenige Zentimeter daneben lag, gar nicht wahrgenommen hatte. Die eine hatte eine richtig schönekupferblaue Grundfärbung mit einem auffallend schönen Zickzackband, während die andere, eine graugrüne, zwischen dem Gras, den jungen Trieben irgendwelcher Sträucher und ein paar

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