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Ein deutscher Wandersommer

Ein deutscher Wandersommer

Titel: Ein deutscher Wandersommer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andreas Kieling
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kurz davor gestanden?
    Vielleicht damals, als die russische Kaserne bei Gotha in die Luft flog? Mein Freund Andreas Tormann und ich waren gerade mit unseren Fahrrädern auf dem Rückwegaus dem Thüringer Wald, wo wir Forellen gefangen hatten, als es am Rand der Stadt eine riesige Explosion gab und ein gewaltiger Feuerball in den blauen Himmel stieg. Das kommt von der Russenkaserne, sagten wir uns, und traten in die Pedale. Wir wollten natürlich wissen, was da los war. Die Zufahrtsstraßen zu dem Gebiet waren in null Komma nix abgesperrt, aber wir kannten Schleichwege über Felder und zwischen Gärten hindurch. Buff! – wieder eine Riesenexplosion. Vielleicht fünfhundert Meter vor der Kaserne gab es auch für uns kein Weiterkommen mehr. Ich kletterte auf einen Baum, weit raus auf einen Ast, um mehr sehen zu können. Die ganze Kaserne brannte, Soldaten liefen über die Dächer der flachen Panzerhallen, um sich in Sicherheit zu bringen. Paff! – eine weitere enorme Explosion. Ein paar Soldaten rannten weiter, einige blieben liegen. Die Druckwelle der nächsten Explosion riss mich von dem Ast, auf dem ich stand. Auf meinem Weg nach unten schrappte ich an etlichen Ästen und der rauen Rinde des Stammes entlang, bis ich ziemlich lädiert, aber zum Glück ohne größere Verletzungen auf dem Boden landete. Es war ein richtiges Inferno. Man hat nie erfahren, was genau passiert war, da die Russen sich komplett abschotteten. Die DDR war immer gespickt mit Parolen, selbst an der Wartburg hingen über dem Eingangstor Sprüche wie »Es lebe die deutsch-sowjetische Freundschaft« oder »Auf ewige Zeiten miteinander brüderlich verbunden«. Tatsache aber war, dass Russen und Deutsche für sich blieben. Die einfachen russischen Soldaten durften die Kaserne ohnehin nur in Gruppen mit Begleitung, etwa einem Unteroffizier, verlassen. Natürlich pfiffen sie mal einer hübschen Frau hinterher, aber das war es dann auch schon. Ein Verhältnis, wie es meine Mutter mit Wolodja hatte, war die Ausnahme. In der Gothaer Zeitung Das Volk vom nächstenTag stand jedenfalls nur, dass es in der sowjetischen Kaserne einen kleinen Zwischenfall gegeben hatte. Dabei waren in Teilen des angrenzenden Neubauviertels die Scheiben aus den Fenstern geflogen! Wir vermuteten, dass das Munitionsdepot in die Luft geflogen war. Unachtsamkeit? Fahrlässigkeit? Oder Sabotage, die einen Gegenschlag herausforderte?
    Oder im Januar 1995, also Jahre nach der »Entspannung«? Damals zündete die NASA eine nicht nukleare Forschungsrakete in Norwegen, also nicht sehr weit weg vom Eismeerhafen Murmansk, in dem russische Atom- U -Boote lagen. Zwar war der Raketenstart bereits im Dezember 1994 dem russischen Außenministerium angekündigt worden, dennoch wurde er offenbar von einigen sowjetischen Dienststellen als Angriff interpretiert, worauf Boris Jelzin erstmals den berühmten schwarzen Koffer – ein tragbares Sendegerät, das den Geheimcode für einen Atomschlag-Befehl enthielt – öffnete.
    Der Gedanke daran, wie oft wir an einem dritten Weltkrieg entlanggeschrammt waren – Koreakrieg 1950, Ungarnaufstand 1956, Kubakrise 1962, Prager Frühling 1968, Jom-Kippur-Krieg 1973, um nur ein paar Beispiele zu nennen – und wie Deutschland wohl danach ausgesehen hätte, trieb mir Tränen in die Augen. Eines war klar: Über eine Wildkatze, einen Schwarzstorch oder einen Luchs, auf der Suche nach deren Fährten ich entlang dem Grünen Band wanderte, würden wir uns heute keine Gedanken machen.
    Cleo spürte, dass Herrchen in einer seltsamen Verfassung war, und so marschierten wir beide in gedrückter Stimmung weiter.
Das »Land der weißen Berge«
    Etwa zehn Kilometer vor »Point Alpha« hatte die innerdeutsche Grenze, die bis dahin grob einer Ost-West-Richtung gefolgt war, einen Bogen geschlagen, und verlief nun mehr oder weniger direkt nach Norden.
    Vor uns lag ein Kuriosum: das »Land der weißen Berge«. Deutschland hat nicht viele Bodenschätze, im Osten Braunkohle, im Westen Steinkohle – und dazwischen Kali, so zum Beispiel bei Zielitz in Sachsen-Anhalt, bei Bokeloh in der Region Hannover oder hier bei Heringen im thüringisch-hessischen Grenzgebiet. Kali beziehungsweise Kaliumchlorid findet Verwendung als Dünger, Geschmacksverstärker (Lebensmittelzusatz E  508), Härtesalz in der Metallindustrie, Streusalz, in Zahncremes für schmerzempfindliche Zähne und und und. Die Abraumhalden der Kaligruben sehen sehr bizarr aus, wie riesige Zuckerberge – nein, das trifft

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