Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Ein deutscher Wandersommer

Ein deutscher Wandersommer

Titel: Ein deutscher Wandersommer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andreas Kieling
Vom Netzwerk:
wunderschönen Orangerie. Die mittelalterliche Altstadt ist einfach nur grandios. Der Hauptmarkt mit seinem historischen Rathaus und die umliegenden Straßen sind gesäumt von schmucken Patrizierhäusern, die bis heute vom einstigen Reichtum der Stadt künden. Während des Zweiten Weltkriegs war Gotha weitgehend verschont geblieben. Im April 1945 entschied sich Kampfkommandant Josef Ritter von Gadolla entgegen seinen Befehlen die Stadt aufzugeben, wurde aber auf dem Weg zur Übermittlung der Kapitulation an die US -Amerikaner von Wehrmachtssoldaten abgefangen und einen Tag darauf zum Tode verurteilt und standrechtlich erschossen. Gotha hatte Glück, denn dank der bereits gehissten weißen Fahnen wurde ein im Anflug befindlicher schwerer Bomberverband umgeleitet. Heute stehen in der kleinen, nur knapp 46000 Einwohner zählenden Stadt über dreihundert Gebäude unter Denkmalschutz.
    Während Weimar sich unter den Herzögen von Sachsen-Coburg und Gotha zu einem künstlerischen Zentrumaufschwang, entwickelte sich Gotha zu einem naturwissenschaftlichen. Hauptanziehungspunkt während meiner Kindheit war für mich das »Museum der Natur Gotha«. Es war aus dem Mineralien- und Kuriositätenkabinett Herzog Ernsts II . hervorgegangen, der von seinen Reisen durch Europa und sogar Afrika unzählige Mineralien, Tierpräparate oder Kultgegenstände mitgebracht hatte. Ich kann seine Sammelleidenschaft gut nachvollziehen, ich sammle nämlich selbst alles Mögliche: Mineralien, Tierschädel, Jagdwaffen – meine älteste ist etwa 12000 Jahre alt, die jüngste aus der Jetztzeit –, Traktoren, Oldtimer, Motorräder, Modellautos, Fossilien, Bernstein, Tierpräparate, Filmkameras, Fotoapparate, Bücher, historische Landkarten … Die Kartensammlung wurde erst kürzlich durch ein sehr schönes Stück ergänzt, das mir Knut Kreuch, der Bürgermeister von Gotha, der mich im Rahmen einer großen Kampagne in die Stadt eingeladen hatte, als Präsent überreichte.
    Das Naturkundemuseum von Gotha war eine stets aufs Neue meine Neugier und Wissbegier weckende Welt voller Geheimnisse, Entdeckungen und Schönheiten. Bei schlechtem Wetter verbrachte ich jeden Tag im Museum – bei schönem war ich lieber im Freien, meistens im Wald –, ohne dass es mir je langweilig geworden wäre. Da gab es Diaramen, Darstellungen hinter Glas, die ganze Biotope nachbildeten; staunend stand ich vor Unterwasserwelten, Gebirgsbächen oder Kulturlandschaften. Ganz außergewöhnlich war Miss Baba. Miss Baba war eine indische Elefantenkuh, die im 19. Jahrhundert von einer Wandermenagerie durch Mitteldeutschland getrieben worden war. Nach ihrem Tod hatte man die Haut dem Gothaer Naturkundemuseum überlassen. Heute ist Miss Baba das älteste erhalten gebliebene Hautpräparat eines Elefanten. Miss Baba und die unzähligen anderen Tierpräparatekonnte ich mir wieder und wieder anschauen. Sie faszinierten mich derart, das ich sogar anfing, die lateinischen Bezeichnungen der Tiere zu lernen. Tiere, Tiere und wieder Tiere.
    Ich muss in der fünften Klasse gewesen sein, da begann ich sogar ein Buch über die Haltung von Reptilien und Amphibien zu schreiben. In der beengten Neubauwohnung, die meine Mutter und ich damals bewohnten, stand alles voller selbst gebastelter Aquarien und Terrarien. Ich hielt Feuersalamander, Laufkäfer, Schnecken, Kaltwasserfische, Libellenlarven, irgendwelche Falterpuppen, eine Ringelnatter, Wald- und Zauneidechsen, eine Sumpfschildkröte, Kammmolche, Bergmolche, eine Blindschleiche, Laubfrösche, einen handzahmen Maulwurf und einen bissigen Feldhamster – alle selbst gefangen. Und nach der Schule war ich erst einmal eine kleine Ewigkeit damit beschäftigt, nach all den Tieren zu schauen und sie zu füttern.
    Das Museum der Natur Gotha hat zweifellos sein Teil zu meinem späteren beruflichen Werdegang beigetragen.
Im Hainich
    Unmittelbar hinter den Hörselbergen erstreckt sich ein weiterer Naturschatz Deutschlands: der Hainich. Der Hainich ist mit 16000 Hektar das größte zusammenhängende Laubwaldgebiet Deutschlands. Trotz früherer jahrhundertelanger Nutzung blieb er relativ naturnah, und der Nationalpark Hainich, der insgesamt 7500 Hektar (75 Quadratkilometer) einnimmt, umfasst die größte nutzungsfreie Waldfläche (5000 Hektar) Deutschlands, also unseren größten Urwald. Teile des Hainichs wurden zwischen 1935und 1993 als Truppenübungsplatz genutzt, zunächst von der Wehrmacht, nach dem Zweiten Weltkrieg von der Sowjetarmee und ab der

Weitere Kostenlose Bücher