Ein deutscher Wandersommer
jede Ecke und jeden Winkel. Am meisten hat mich schon damals interessiert, wie sich früher das Leben in einer Höhle abgespielt hat.
In der Einhornhöhle waren bereits vor mehr als vierhundert Jahren zahlreiche Knochen gefunden worden. Otto von Guericke, ein vielseitiger Mann, der unter anderem die Luftpumpe erfand und Experimente zum Vakuum (Magdeburger Halbkugeln) durchführte, setzte aus diesen Knochenfunden im 17. Jahrhundert ein Einhorn zusammen. Daher also der Name. Da die Knochen des Einhorns als heilkräftig galten, wurde daraufhin ein großer Teil der in der Einhornhöhle gefundenen Knochen als Medizin verkauft. Später dann wurden den Menschen Bruchstücke von Tropfsteinen als Hörner des Einhorns untergejubelt.
Heute weiß man, dass die Knochen von Höhlenbären, Höhlenlöwen, Wölfen, Hyänen, Vielfraßen, Bisons und Riesenhirschen stammen. Die Einhornhöhle hat viele Kulturschichten, wie das so ist mit Höhlen. Wir denken: Och, da grab ich mal einen halben Meter tief und stoße auf die tollsten Sachen. Aber so einfach ist das nicht. Denn über die Jahrhunderte oder Jahrtausende fällt von der Höhlendecke immer wieder etwas auf den Höhlenboden – Dinge wie Steinbrocken, Sand oder Stalaktiten – und begräbt dorttote Tiere, Skelette, Feuerstellen, Lagerstellen, Werkzeuge und so weiter unter einer ständig wachsenden Sedimentschicht. Hinzu kommen noch so Faktoren wie Grundwasser, kleine Bäche, die durch die Höhle fließen, Stalagmiten. Bisher hat man in der Einhornhöhle gerade einmal die ersten knapp zwei Meter der bis zu dreißig Meter dicken Sedimentablagerung, die den eigentlichen Höhlenboden bedeckt, untersucht. Die ältesten Fundstücke, auf die man dabei stieß, stammen aus der Eis- und der Nacheiszeit.
Damals sah es in Deutschland ganz anders aus als heute. Man hätte trockenen Fußes von Bremerhaven nach London marschieren können. Die ganze Nordsee war eine riesige Tundra, eine Eiszeitsteppe, durch die Mammuts, Wollnashörner, Moschusochsen und riesige Karibuherden zogen. Die Pflanzenwelt muss man sich ähnlich vorstellen wie im heutigen Nordalaska oder Sibirien: Moose und Flechten bedeckten den Boden. Dazwischen hielten sich Zwergweiden und Schwarzfichten, die beide viel Kälte vertragen, aber dennoch nur einen dreiviertel bis einen Meter hoch werden, und vereinzelt noch kleinere verkrüppelte Birken, vielleicht ein paar Erlen. Erst als es wieder wärmer wurde, konnten sich Bäume wie Buche, Ahorn, Eiche oder Esche etablieren.
An vier verschiedenen Stellen der Einhornhöhle wurden bei Grabungen aber auch Steinartefakte gefunden, was bewies, dass die Höhle einst von Menschen besiedelt wurde, und zwar, wie radiometrische Messungen und die in den gleichen Schichten gefundenen Tierknochen beweisen, 70000 bis 130000 Jahre vor unserer Zeit. Damit konnte es sich nur um Neandertaler handeln, denn der Cro-Magnon-Mensch tauchte erst vor knapp 40000 Jahren auf. Der Neandertaler, klein, gedrungen und muskelbepackt, war eigentlich ein Erfolgsmodell, denn immerhin gab es ihnüber etwa 130000 Jahre hinweg, von vor etwa 160000 bis mindestens vor 30000 Jahren. Warum ist er dann ausgestorben? Die genauen Ursachen kennt man nicht, vermutlich ist ein Zusammentreffen verschiedener Faktoren schuld. Aufgrund seiner kräftigen Muskulatur hatte der Neandertaler einen weit höheren Kalorienbedarf und brauchte mehr fleischliche Nahrung als der Cro-Magnon- oder der moderne Mensch. Er war wegen seiner vielen Muskeln und der gedrungenen Gestalt nicht sehr beweglich und konnte nicht über weite Strecken wandern, was vor allem bei der Nahrungssuche ein großer Nachteil war. Außerdem soll er ein Sexmuffel gewesen sein. Die Frauen brachten nach neuesten Erkenntnissen nur etwa alle vier Jahre ein Kind zur Welt. Vor 30000 Jahren lebten in ganz Europa schätzungsweise nur rund 10000 Neandertaler. Die konnten auch durch eine Seuche hinweggerafft worden sein. Der Neandertaler ist übrigens keine Unterart des Homo sapiens, wie lange Zeit angenommen, sondern eine eigene biologische Art, die sich parallel zum Homo sapiens aus einem gemeinsamem Vorfahren, dem Homo erectus, entwickelte. Das ergaben DNA -Untersuchungen.
Die Einhornhöhle ist in mehrere Abschnitte unterteilt mit so seltsamen Namen wie »Armesünderkammer« oder »Schillersaal«. In der »Blauen Grotte« befinden sich zwei Deckeneinstürze, die einzigen heute noch vorhandenen natürlichen Zugänge zur Höhle, und in der Nähe von einem davon schlugen Cleo und
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