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Ein deutscher Wandersommer

Ein deutscher Wandersommer

Titel: Ein deutscher Wandersommer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andreas Kieling
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funktioniert, wenn ich das richtig verstanden habe, wie ein Navi in einem Auto. Ihr wisst jetzt immer genau, wo die Luchse sind, ohne wie früher mit unhandlichen Empfangsgeräten kreuz und quer durch die Prärie laufen zu müssen?«, wollte ich wissen, nachdem Ole sein Handy wieder eingesteckt hatte.
    »Mehr oder weniger«, nickte er. »Die Daten kriegen wir nicht permanent, sondern in bestimmten Abständen. Aber man erfährt so, ob sich ein Luchs bewegt oder an einer Stelle bleibt. Wenn das Signal lange von derselben Stelle piept, so wie jetzt offenbar, ist irgendwas im Busch. Entweder ist der Luchs tot – überfahren, geschossen, verunglückt –, oder er hat Beute gemacht und hält sich lange an diesem Riss auf. Es muss dann ein ziemlich großer Riss sein, denn einen Hasen oder ein Rehkitz hätte er auf einen Sitz gefressen und wäre weitergezogen. Luchse haben jazum Teil einen ziemlich großen Aktionsradius; das Streifgebiet kann mehrere Hundert Quadratkilometer umfassen. Ich schau mal nach, was da los ist. Kommt ihr mit?«
    Klar, dass Cleo und ich uns das nicht entgehen ließen!
    Ole holte eine GPS -Karte und schaute nach, wo wir den Luchs finden müssten.
    »Ziemlich weit weg. Wir nehmen das Auto«, entschied er.
    Auf der Fahrt dahin unterhielten wir uns über Luchse, über die Vorurteile seitens der Jäger, ob wir nun zu viel Rehe, Hirsche oder Wildschweine in unseren Wäldern haben, wie das reguliert werden sollte und all solche Dinge. Ole hatte im Grunde dieselbe Einstellung wie ich: Leben und leben lassen. Dass es zwar sehr schwierig sei, allen gerecht zu werden, vor allem in einem so dicht besiedelten Land: den Menschen generell, den verschiedenen Interessengruppen, den Tieren und der grandiosen Natur, die wir in Deutschland an so vielen Stellen haben, dass es uns Deutschen aber auch an Toleranz fehlt.
    In einem Tal mit vereinzelten Wiesen, die von dichtem Wald umsäumt waren, hielt Ole den Wagen an. Wer schon mal im Hochharz war, weiß: Da gibt es eigentlich nur Fichten, sprich, es ist furchtbar dunkel, richtige Schwarzwaldstimmung. Und die vielen dunkelgrauen Granitbrocken lassen ihn noch düsterer wirken, fast mystisch.
    »Hm, das Signal kommt jetzt von da«, meinte Ole, der den Luchs mit einer Telemetrieantenne nun direkt anpeilte, und deutete auf eine Dickung – »der hat uns mitgekriegt und sich da hinein verzogen. Die Stelle, wo das Signal den ganzen Tag über herkam, liegt ungefähr einen halben Kilometer entfernt. Da müsste eigentlich die Beute sein; falls es Beute war und falls der Luchs sie nicht mittlerweile woanders versteckt hat. Dass er da in einer Falle saßund sich selbst befreit hat, ist unwahrscheinlich, weil wir hier im Nationalparkgebiet sind.«
    »Wenn er Beute gemacht hat, ist das für Cleo kein Problem. Die kann uns mit Sicherheit zu dem Riss führen.«
    Doch zuerst versuchten wir so nah wie möglich an den Luchs heranzukommen. Cleo bekam keine Witterung von ihm, weil der Wind die ganze Zeit über von der Seite kam. Der Luchs hat uns wahrscheinlich gesehen, auf alle Fälle gehört, trotzdem kam das Signal unverändert von derselben Stelle. Dass das Tier nicht flüchtete, fand ich sehr interessant, denn immerhin hatten wir Cleo dabei. Nachdem wir uns bis auf zirka zweihundert Meter genähert hatten, gab es kein Weiterkommen mehr, und wir ließen es gut sein.
    Nun ließ ich Cleo in das Tal hinein suchen. Erst suchte sie am Boden und nahm alle möglichen Fährten, weil sie nicht so recht verstand, was ich wollte, denn sie ist natürlich auf frische Fährten eingearbeitet und nicht auf irgendwelche Kadaver. Irgendwann nahm sie aber die Nase hoch und witterte in die Luft rein, und da war mir klar, dass sie jetzt das Beutetier des Luchses in der Nase hatte.
    »Such voran, so ist’s recht!«, lobte ich Cleo immer wieder, während Ole und ich uns von ihr führen ließen.
    Es dauerte keine drei, vier Minuten, da standen wir auf einer kleinen Lichtung vor einem großen unordentlichen Grashaufen, unter dem der Kopf eines Rotwilds hervorschaute. Nachdem Ole und ich das Gras zur Seite geräumt hatten, stellte sich heraus, dass es eine einjährige Hirschkuh war. Der Leib war aufgebrochen, und zwar, wie Ole schnell feststellte, definitiv von einem Luchs, und es fehlten neben den Innereien bereits erhebliche Teile aus der Keule und vom Rücken. Nachdem sich der Luchs satt gefressen hatte, hatte er sich wahrscheinlich danebengelegtund erst einmal geschlafen, und schließlich, bevor er sich die

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