Ein deutscher Wandersommer
Füße vertreten ging, die Beute abgedeckt, um sie vor Fressfeinden wie Wolf, Bär, Fuchs, Dachs oder Baummarder zu verstecken. Dieses Verstecken ist mehr ein ritualisiertes und symbolisches Handeln, denn wenn Cleo den Riss findet, finden ihn natürlich auch Beutegreifer – von Greifvögeln einmal abgesehen, die rein mit den Augen und nicht mit der Nase jagen. Dieses Verhalten zeigen viele Raubtiere, auch zum Beispiel Bären und Tiger.
»Meinst du, dass der Luchs noch mal hierher zurückkommt oder jetzt erst einmal über Berg und Tal verschwindet, weil wir ihn mehr oder weniger an seiner Beute gestört haben?«, wollte ich wissen.
»Nö, der kommt wieder. Da mach dir mal keine Sorgen. Vielleicht vergeht ein Tag, aber ich wette darauf, dass er dann wieder an seinem Riss frisst.«
Luchse sind eigentlich Frischfleischfresser, erklärte mir Ole, aber wenn sie die Möglichkeit haben, längere Zeit von einem Beutetier zu leben, dann tun sie das auch. In der Regel reißen sie etwa einmal die Woche ein Reh, was sich immerhin zu gut fünfzig Rehen pro Jahr addiert. Pro Luchs! Ein Hirschkalb würde ihn zwar theoretisch über zwei Wochen satt machen, aber dann dürfte das Fleisch derart vergammelt sein, dass er nicht mehr rangeht. Im Winter allerdings, wenn die Natur den großen Kühlschrank aufstellt, fressen alle großen Beutegreifer zum Teil extrem lange von einem Kadaver.
»Soll ich dir Luchse zeigen?«, fragte Ole. »Also richtig nah? Willst du mal ein paar schöne Fotos schießen?«
»Ja, klar«, nickte ich.
Im Nationalpark Harz, der knapp 250 Quadratkilometer umfasst, gibt es ein riesiges naturbelassenes, sehr schönes Schaugehege, in dem in zwei verschiedenen Bereichen jezwei Luchse leben. Da der ältere, sehr zerklüftete Teil den Tieren zu viele Rückzugs- und Deckungsmöglichkeiten bot, hat man das Gehege vor wenigen Jahren um einen 1500 Quadratmeter großen Hang erweitert, der recht gut einsehbar ist. Eine »Luchs-Garantie« hat man selbst da nicht. Da Tiere in Gehegen natürlich gefüttert werden müssen, bietet die Fütterungszeit die Chance, einen Luchs zu Gesicht zu bekommen. Und damit der Zaun nicht den Blick auf die Tiere stört, gibt es eine dreieinhalb Meter hohe Zuschauertribüne an der Stelle, wo die Luchse regelmäßig mit großen Stücken Fleisch gefüttert werden – meistens mit Fleisch von überfahrenem, geschossenem oder Fallwild, aber auch mit Totgeburten von Nutzvieh.
Doch wozu eigentlich Schaugehege in einem Nationalpark? Viele Besucher, die durch einen Nationalpark wandern, erhoffen sich, dass ihnen seltene Tiere sozusagen über die Füße springen. Und so mancher kommt dann völlig frustriert nach Hause und sagt: »Ja, also, tolle Landschaft, tolle Berge, schöner Stausee. Aber ich hab nur zwei Eichhörnchen gesehen, einen Schwarzspecht, fünf Eichelhäher, einen Kolkraben und einen Milan ganz hoch in der Luft« – interessanterweise immer viele Vögel; man sieht eher einen seltenen Vogel als ein seltenes Säugetier, weil Vögel sich nun mal im Luftraum den Blicken nicht entziehen können – »ach ja, und eine Wildkatze.« War natürlich keine.
Aber was er eigentlich sehen wollte, nämlich Luchse, Wölfe, Rotwild in freier Natur, das bekam er nicht zu Gesicht. Wild lebende Tiere sitzen halt nicht wie im Zoo quasi auf dem Präsentierteller.
Gehege in Nationalparks – ein Spagat oder, um es positiver auszudrücken, ein Mittelweg zwischen freier Wildbahn und Tierpark – findet man mittlerweile recht häufig.So wie der Nationalpark Harz ein Luchs- und ein Auerwildgehege hat, gibt es zum Beispiel im Nationalpark Bayerischer Wald ein Wolfs- und ein Bärengehege. Wenn man mal von den Fütterungszeiten absieht, hat man, wie schon erwähnt, zwar keine Garantie, die Tiere in natürlicher Umgebung zu sehen – aber gute Chancen. Wenn man sich irgendwo ruhig hinsetzt und der Luchs, Bär oder Wolf nicht gerade im Tiefschlaf hinter irgendeinem Busch liegt, wird man ihn früher oder später wahrscheinlich zu Gesicht bekommen. Man ist innerlich angespannt, konzentriert, das Jagdfieber ist geweckt. Das Tier dann tatsächlich zu sehen ist die Belohnung für genaues Schauen, für Geduld, für Ausharren. Und man wird erstaunt feststellen, wie imposant die Tiere in freier oder halbwegs freier Natur sind. All das wird man in einem Zoo nicht empfinden.
Das ist ein ganz wichtiger Aspekt und, wie ich glaube, ein ganz wichtiger psychologischer Effekt, der bei vielen Menschen ein verstärktes Interesse an
Weitere Kostenlose Bücher