Ein deutscher Wandersommer
schauten sie genauer hin, erkannten mich, einer wusste sogar meinen Namen – »Ah, der Kieling«. Und dann sagten zwei von ihnen: »Ich ziehemeinen Hut vor Ihnen!«, und lüpften ihn tatsächlich. Das hat mich so berührt, dass mir fast die Tränen in die Augen stiegen. Unter Förstern ist den Hut zu ziehen nämlich die höchste Ehrerbietung, die man jemandem erweisen kann.
Brocken-Benno verteilte währenddessen seine Visitenkarten und war ziemlich sauer, weil ihn keiner so recht wahrnahm, obwohl doch er der Star hier war. Und eines muss gesagt sein: Brocken-Benno ist am Brocken wirklich ein Star, und zu Recht. Ich finde es eine ganz beachtliche Leistung, dass dieser Mann mit seinen weit über siebzig Jahren fast täglich – oder manchmal eben zweimal pro Tag – den Brocken bezwingt. Außerdem ist er ein netter Kerl. Als die ganze Aufregung gerade ein bisschen am Abklingen war, tauchte die nächste Truppe Männer auf Vatertagsausflug auf. Jeder von ihnen hatte eine Flasche Wurzelpeter in der Hand, und allesamt waren sie derart betrunken, dass sie nicht mehr geradeaus schauen konnten. Die liefen schnurstracks an mir vorbei, auf Brocken-Benno zu.
»Mensch, du bist doch der Brocken-Benno! Dich kenn ich aus dem Fernsehen! Och, das gibt’s doch nicht! Nimm mal einen Schluck!«
Brocken-Benno trinkt nie, aber nun war für ihn die Welt wieder in Ordnung.
Brocken-Benno und ich gaben ein paar Autogramme, posierten für Fotos in den unterschiedlichsten Kombinationen – er allein, ich allein, wir beide, ich mit Cleo, alle drei zusammen –, dann machten sich die Leute nach und nach wieder auf den Weg zum Gipfel.
Ich fragte Brocken-Benno, ob ich mit ihm zusammen hochwandern dürfe, es wäre eine große Ehre für mich. Das sei es für ihn auch, meinte er, und so marschierten wir los. Allerdings legte Brocken-Benno ein solches Tempo vor,dass ich für all die Fragen, die ich ihm hatte stellen wollen, keine Luft mehr hatte. Selbst ohne zu reden schaffte ich es nur mit Müh und Not, mit ihm Schritt zu halten. Peinlich, peinlich! Wo ich mir doch immer eingebildet hatte, dass ich für mein Alter richtig fit sei. Mussten die Fragen halt warten, bis wir auf dem Plateau angekommen waren.
»Warum so oft? Warum jeden Tag? Hoch, runter, wieder hoch und wieder runter. Und das seit zwanzig Jahren. Fast täglich, manchmal zweimal am Tag! Bei jedem Wetter«, fragte ich, als ich wieder genug Atem hatte. Und da ich mittlerweile wusste, dass Brocken-Benno Humor hat, setzte ich nach: »Haben Sie zu Hause eine böse Frau, oder treibt Sie die Unruhe?«
»Der Schauspieler Uwe Steimle hat einmal gesagt: ›Wir brauchen viel mehr Leute mit einer Macke. Alles, was verrückt ist oder fern der Norm, ist ein Stück Kultur und bereichert unser Leben.‹«, zitierte Brocken-Benno schmunzelnd.
Ursprünglich war es die Freude darüber, überhaupt wieder auf den Brocken zu dürfen, den er jahrzehntelang direkt vor der Nase gehabt hatte, dem er aber nicht zu nahe kommen durfte. Dann, schon kurz nach der Wende, hörte Brocken-Benno, dass ein Wessi behauptete, er wäre am häufigsten auf den Brocken gestiegen, und dachte sich: Das darf nicht sein. Es muss ein Ossi sein, der am häufigsten auf dem Brocken war, schließlich liegt der Berg in Sachsen-Anhalt. Und da sich Brocken-Benno jede Wanderung in seinem Brocken-Pass (mittlerweile hat er den 57. oder so) abstempeln ließ, ist sein Rekord belegt. Im Fernsehen, beim NDR oder MDR , ist er immer für eine Geschichte gut. Selbst im Spiegel wurde schon über ihn berichtet. Brocken-Benno ist einfach ein norddeutscher Star, da führt kein Weg dran vorbei.
Meine Einladung auf eine Bockwurst lehnte Brocken-Benno ab, er hielt sich an seine Äpfel und sein Vollkornbrot, trank einen Schluck Wasser und machte sich wieder auf den Weg, denn heute war so ein Tag, an dem er zwei Mal auf den Brocken wollte.
Plötzlich geriet Cleo völlig aus dem Häuschen und zerrte an der Leine – da der Brocken im Nationalpark liegt, herrscht hier Leinenpflicht. Als ich ihrem Blick folgte, sah ich einen Fuchs mit einer halben Bockwurst im Maul quer über das Plateau laufen. Na, das gibt’s doch nicht, dachte ich, der ist ja ganz schön mutig. Später erfuhr ich, dass einige Füchse hier sich sehr an den Menschen gewöhnt haben und regelmäßig nach Essensresten Ausschau halten. Cleo kriegte sich gar nicht mehr ein, nicht so sehr wegen des Fuchses, sondern weil sie die Wurst haben wollte.
Nachdem der Fuchs sich getrollt hatte,
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