Ein deutscher Wandersommer
schauten Cleo und ich uns noch eine Weile das Treiben auf dem Brocken an. Es herrschte eine unglaubliche Fröhlichkeit und Ausgelassenheit, der auch wir uns nicht entziehen konnten. Das hatte ich so auf keinem anderen Berg erlebt, nicht auf der Wasserkuppe, nicht auf dem Schwarzen Mann in der Eifel, auch nicht auf der Zugspitze … Warum der »deutscheste aller deutschen Berge« eine solche Euphorie unter den Menschen auslöst, kann ich nicht erklären, aber auch ich dachte: Hierher muss ich unbedingt wieder einmal kommen.
Cleo und ich hätten uns wochenlang im Harz herumtreiben können, Gold schürfen, auf Wildschweinjagd gehen, ein weiteres Mal Forellen angeln, doch wir hatten ja nicht ewig Zeit, und es lag noch eine ziemliche Wegstrecke vor uns.
Der Drömling
Obwohl Cleo ein Hund der Berge ist und ich ein Mann ebenderselben bin, haben es uns große Niederungen angetan, und so freuten wir uns trotz des leisen Abschiedsschmerzes darauf, vom Harz in die Norddeutsche Tiefebene, einen der Landschaftsgroßräume Deutschlands, zu wandern. Erstaunlicherweise ging das unheimlich schnell. Damit meine ich, dass der Übergang recht abrupt war. In dem einen Moment hatten wir noch den leicht erhöhten Blick in die endlose offene Weite vor uns, um im nächsten schon mitten zwischen riesigen Feldern, Weideflächen und Entwässerungsgräben zu laufen. Als ich mich umdrehte, war der Harz nur mehr eine flache Welle am Horizont.
Zwei volle Tage marschierten Cleo und ich strammen Schrittes durch Kulturlandschaften, sahen hin und wieder ein Reh und mal kleinere Ketten von Rebhühnern, die in Deutschland sehr selten geworden sind. Am dritten Tag erreichten wir schließlich das Naturschutzgebiet Drömling.
Der Drömling, eine flache Senke von etwa 340 Quadratkilometern, ist in der Saaleeiszeit vor rund 140000 Jahren entstanden. Die Schmelzwasser des Urstromtals, das von Breslau über Magdeburg nach Bremen verlief, schwemmten eine etliche Meter dicke Sandschicht in den Drömling, auf der sich später zunächst eine Art Tundra bildete. Wegen des geringen Gefälles der Flüsse Aller und Ohre, die durch diese riesige Mulde fließen, und weil der Drömling ein natürliches Speicherbecken für deren Hochwasser war, wurden die Böden immer feuchter, und es bildete sich schließlich eines der größten Niederungsmoore Deutschlands mit ausgedehnten Erlenbruchwäldern.
Ein Bruchwald – von dem mittelhochdeutschen Wort »Bruch« für »Sumpf« – ist ein nasser, zeitweilig überstauter Wald, also Schwemmland. Auf sumpfigem Gelände wachsen nur ganz bestimmte Bäume, auf eher sauren Böden Birken, Kiefern und Fichten, auf nährstoffreicheren Böden vorwiegend Schwarzerlen. Ein Bruchwald ist wie ein Urwald: Was umfällt, bleibt liegen, verrottet, geht wieder in den Kreislauf der Natur zurück. Alles grünt und blüht und wächst. In trockenen Zeiten, wenn der Wasserpegel sinkt, ist der Boden so fest, dass man darauf laufen kann; man hat aber das Gefühl, dass das Ding unter einem irgendwie schwimmt. Gab es viele Niederschläge, watet man mitten in einem Wald durch Wasser – so wie Cleo und ich später am Schaalsee. Eine eigentümliche Erfahrung.
Früher waren solche Gebiete in Kriegszeiten, zum Beispiel während des Dreißigjährigen Krieges, oft Zufluchtsorte, da den meisten Eroberern Bruchwälder suspekt waren. Bei Gefahr zogen sich die Einheimischen, die sich in der Gegend gut auskannten, mit Huhn, Schaf und Ziege in den Bruchwald zurück. Manchmal wurden sogar Fluchtburgen in den Erlenbrüchen angelegt: eine Art Miniburgen mit Palisadenwänden auf Erhöhungen, die entweder natürlichen Ursprungs oder eigens zu diesem Zweck aufgeschüttet worden waren.
Im 18. Jahrhundert ließ Friedrich der Große das riesige Sumpfgebiet des Drömlings durch Kanäle und Gräben trockenlegen, um neues Ackerland für die bitterarmen Menschen in jener Gegend zu schaffen. Und noch heute wird der Drömling das »Land der tausend Gräben« genannt. Ich kletterte auf den ersten großen Baum, den ich sah, und bestaunte das einstmals geschaffene Schachbrettmuster: Entwässerungsgraben, Grünland, Entwässerungsgraben, Grünland, Entwässerungsgraben … so weit das Augereichte. Nachdem zweihundert Jahre lang die Urbarmachung und die landwirtschaftliche Nutzung dieses Gebiets im Vordergrund gestanden hatten, drängte sich im 20.Jahrhundert zunehmend der Naturschutzgedanke auf. Nicht alle Projekte waren erfolgreich. Das 1979 auf DDR -Seite ausgewiesene erste
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