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Ein deutscher Wandersommer

Ein deutscher Wandersommer

Titel: Ein deutscher Wandersommer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andreas Kieling
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Dörfern Lomitz und Prezelle lebten zu der Zeit, als ich meine Forstausbildung machte, meist junge Männer und Frauen, die ursprünglich aus der Stadt kamen. Lange Haare, Schlabberkleider und ein großer Button »Atomkraft – nein danke!« auf der Kleidung oder als Aufkleber auf dem alten R 4 waren ihre Markenzeichen. Es waren die Jahre, als die Hippiekultur allmählich in alternativen Bewegungen wie den »Grünen« aufging. Im Mai 1980 gründeten sie auf dem Gelände der Tiefbohrstelle 1004 bei Gorleben das sogenannte Hüttendorf und riefen die »Republik Freies Wendland« aus. Sie hatten sogar einen eigenen Grenzübergang in Form eines Schlagbaums und eine Flagge. Dort hausten sie, einig in ihrer Ablehnung von Staat, Atomkraft und Establishment.
    Ich war damals gerade mal 21 Jahre alt und auch nicht eben konservativ. Ich fuhr einen alten klapprigen Käfer und hatte neben meinem ersten Hund Minka, einer Deutschen Drahthaarhündin, einen zahmen Kolkraben, der mich immer begleitete, selbst wenn ich mit Schlafsack und Gewehr auf dem Rücken zur Wildschadensverhütung – es gab Unmengen von Wildschweinen – durch das große Revier zog. Meistens saß er auf meiner Schulter, machte nur ab und zu mal Ausflüge. Es war eine ziemlich schräge Zeit, und ich sympathisierte mit den Menschen aus dem Hüttendorf. Ich wollte so wenig wie sie, dass in GorlebenMüll gelagert wurde, der nach hundert oder 1000 Jahren noch genauso gefährlich ist und alles verstrahlt. Diese Einstellung passte zu meinem Beruf, der ja sehr naturverbunden ist, der andererseits aber eine gewisse Disziplin erforderte, und die konnte man den Bewohnern des Hüttendorfs nun wirklich nicht nachsagen. Ich stand zwischen Baum und Borke, wie der Forstmann sagen würde.
    Als im Juni die Republik Wendland gewaltsam geräumt wurde, saß ich auf einem Baum und beobachtete, wie mehrere Tausend Mann Bundesgrenzschutz und Polizei mit Gummiknüppeln und Gasmasken anrückten, Planierraupen die nur provisorisch zusammengezimmerten Hütten niederwalzten, während ihre Bewohner Hals über Kopf herausstürzten, und die umliegenden Bäume gefällt wurden. Hoppla, dachte ich da, nicht zum ersten Mal, der Staat ist nicht zimperlich, wenn es darum geht, seine Interessen durchzusetzen. Unversehens saß ich auf einem der letzten Bäume, die noch standen.
    »Dich kriegen wir auch!«, schrie einer der Polizisten zu mir hoch. Dann rief er seinem Kollegen zu: »Hans, hol mal die Motorsäge.«
    Irgendwie musste Karl Labacek, der die Freie Republik Wendland und das Tun ihrer Bürger absolut nicht billigte, davon Wind bekommen haben, dass ich mich auf dem Gelände der Atomkraftgegner aufhielt. Er kam in seinem olivgrünen VW -Kombi angebraust, entdeckte mich in dem Baumwipfel und brüllte: »Sie sind eine Schande für die ganze Innung. Kommen Sie sofort da runter!«
    Da ich große Hochachtung vor meinem Chef hatte, kletterte ich bedröppelt zu Boden. Vielleicht gut so, denn wahrscheinlich hätten die mich sonst samt Baum umgesägt. Lapacek packte mich ins Auto und fuhr mich nach Hause, wo er mich so richtig zur Sau machte.
    Bei meinen Reviergängen – das Revier lag direkt an der damaligen Zonengrenze – sah ich relativ oft DDR -Grenzaufklärer, die, wie zu Anfang des Buches beschrieben, durch Durchlässe im Zaun auf die westliche Seite kommen konnten. Zum Teil waren wir nur einen oder anderthalb Meter voneinander entfernt. Sie standen jenseits und ich diesseits des schwarz-rot-goldenen Pfahls. Und unentwegt fotografierten sie. Es muss aus jener Zeit mindestens zweihundert oder mehr Fotos von mir geben. Sie selbst wollten natürlich nicht fotografiert werden; wenn ich es versuchte, drehten sie sich blitzschnell weg. Reden wollten sie ebenso wenig. Mal sagte ich ein freundliches »Guten Morgen!« oder »Weidmanns Heil!«, mal »Leckt mich am Arsch!« – keine Reaktion.
    Eines Morgens hörte ich es aus Richtung Grenze permanent rummsen. Sofort fuhr ich hin und sah von Weitem große Explosionen. Zwischen den beiden Metallstreckzäunen liefen Männer, Sprengpioniere der NVA . Sie hatten dicke Panzerwesten und -hosen an, eine Art Astronautenhelm auf, Verlegepläne in den Händen und stocherten mit langen Stangen im Boden herum, um eingewachsene Kunststoffminen aufzuspüren, die man nicht orten konnte. Sobald sie fünf bis sechs freigelegt hatten, verbanden sie sie mit Zündschnüren und sprengten sie – nur, um später neue Minen zu verlegen. Soldaten mit Kalaschnikow und in »Ein Strich

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