Ein deutscher Wandersommer
– kein Strich«-Kampfanzug – die geläufigere Bezeichnung für das »Strichtarn«-Muster – überwachten die Aktion. Auf unserer, auf BRD -Seite, stand der Grenzschutz und guckte sich das Ganze an. Es war eine makabre Situation. Bei der Gelegenheit sah ich das erste Mal, mit welcher Wucht diese kleinen Kunststoffminen hochgingen. Man muss sich wundern, dass »nur« ein Fuß oder Bein zerfetzt wurde, wenn jemand auf so eine Mine trat.
Nicht nur vielen Menschen, auch manchem Tier wurde die Grenze zum Verhängnis. Mehrmals mussten Karl Lapacek, Kollegen oder ich in jenen Jahren Wildschweine schießen, die im Minenstreifen auf eine Mine getreten waren und sich trotzdem noch unter dem Zaun durchgegraben hatten. Einige gelangten mit frischen Wunden in den Westen, andere heilten ihre Verletzung »drüben« aus und kamen mit einem verkrüppelten Bein oder auf nur mehr drei Läufen in die BRD gehumpelt.
Als ich im Jahr der Wende meinen alten Mentor Karl Lapacek besuchte, war der völlig euphorisch.
»Kannst du dir das vorstellen? Die Grenze ist auf! Den alten Ortsverbindungsweg von Lomitz nach Arendsee, den gibt es wieder!«, begrüßte er mich.
Der Weg war inzwischen als Kreisstraße deklariert worden und hatte einige Verkehrsschilder bekommen, war aber nach wie vor lediglich eine Sandpiste – voll schräg. Ich werde nie das Gefühl vergessen, als ich mit Karl den Weg entlangfuhr. Zwei Jahre hatte ich dort Dienst getan, ständig den Zaun vor der Nase. Jetzt auf einmal war er weg. Souvenirjäger hatten von den Grenzpfählen bereits die DDR -Embleme abgeschlagen. Die Wachtürme standen noch, und rechts und links der Straße Schilder, man solle bloß nicht den Todesstreifen zwischen den beiden Streckzäunen betreten, der nach wie vor voller Minen lag. Auf diesem Weg fahren zu können war ein unbeschreibliches Gefühl. Selbst für mich, der ich nur relativ kurz in dieser Gegend gelebt hatte. Wie musste das erst für die Menschen sein, die hier aufgewachsen waren, die immer hier gelebt hatten? »Drüben« war irgendwann die Zeit stehen geblieben, war ärmste Altmark. In dem kleinen Dorf Zießau am Nordufer des Arendsees beispielweise, das über Jahre in der Sperrzone gelegen hatte, war das Katzenkopfpflaster so grob und ausbesserungsbedürftig, dass wir, obwohl wir ganz vorsichtig und langsam darüberfuhren, fürchteten, uns würden die Füllungen aus den Zähnen fallen.
Karl Lapacek erzählte mir, dass alle gedacht hatten, nach der Wende würde nun noch mehr Wild aus dem Osten in den Westen überwechseln. Doch genau das Gegenteil war der Fall: Nach der Grenzöffnung zogen Wildschweine, Rotwild und Damwild aus dem wildreichen Westen in den Osten. So zahlreich, dass die Jäger auf der anderen Seite bald Alarm schlugen.
Wildschweine
Der Landkreis Lüchow-Dannenberg war in der Zeit, als ich dort meine Ausbildung machte, eines der wildreichsten Gebiete Deutschlands. Mit Rotwild, Damwild, Muffelwild, Schwarzwild und Rehwild tummelten sich in dieser Region fünf Schalenwildarten. Die sorgten nicht nur für eine große Artenvielfalt, sondern bei Bauern, Jägern und Förstern der Region für schlaflose Nächte, weil sie sehr viel Schaden im Getreide, in Sonderkulturen wie Bohnen und Erbsen, in erster Linie aber in den Kartoffeln anrichteten. Wenn sich etwa eine Rotte Wildschweine ein paar Nächte in einem Feld mit Saatkartoffeln herumtrieb, wurde das Feld nicht mehr als zertifiziertes Saatgutfeld anerkannt, was dem Bauern einen immensen finanziellen Verlust bescherte. Ein Verlust, der in dem strukturschwachen Zonenrandgebiet, in dem die Menschen ohnehin sehr bescheiden lebten, doppelt schwer wog.
In meinem zweiten und dritten Ausbildungsjahr war es eine meiner wichtigsten Aufgaben, solchen Wildschaden zu verhindern. Mit meinem Hund Minka, einem altenFahrrad, einem Schlafsack auf dem Gepäckträger, meinem Bergstutzen – einer Jagdwaffe mit einem groß- und einem kleinkalibrigen Kugellauf – und einem guten Fernglas pirschte ich nachts die kilometerlangen Waldkanten ab. Da war Kiefernwald, da war Eichen- und zum Teil Buchenwald; riesige Wälder, und mittendrin lagen die Felder, große Felder. Das war natürlich ein Eldorado für die Wildtiere. Tiere sehen die Welt ja ganz anders. Die sagen sich: Hier ist der Wald, der bietet uns Deckung und Einstand, und da vorn ist der Selbstbedienungsladen: Felder mit den leckersten Sachen, viel besser als das, was im Wald zu finden ist. Und wenn es da nach frischen Kartoffeln oder Mais
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