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Ein deutscher Wandersommer

Ein deutscher Wandersommer

Titel: Ein deutscher Wandersommer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andreas Kieling
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ein bisschen suspekt aus, entspricht nicht einmal als Jungtier dem Kindchenschema: große, runde Augen, kleine Nase, rundliche Wangen und all das, was wir Menschen schön finden. Man glaubt außerdem, es rieche nicht gut, dabei sind Wildschweine extrem saubere und reinliche Tiere, gehen sich regelmäßig suhlen und befreien sich damit von Hautparasiten. Darüber hinaus sind sie intelligent, sehr sozial und speichern einmal gemachte Erfahrungen, egal ob positive oder negative, sehr lange. Und wie schon an anderer Stelle erwähnt: Sie sind für den Wald sehr nützlich, weil sie den Boden aufwühlen und so für seine Durchlüftung sorgen und weil sie viele Forstschädlinge wie Engerlinge, Käfer und Larven vertilgen.
    Obwohl ich wegen der Wildschweine damals viel Ärger hatte und ein paar Jahre später nach einem heftigen Angriff durch einen Keiler fast verblutet wäre, zählen sie zu meinen Lieblingstieren. Wildschweine begleiten mich eigentlich durch mein ganzes Leben. Als ich noch Kind war, gab es in der gut 15 Kilometer von Gotha entfernten Nachbarstadt Friedrichroda einen Jäger, der ein zahmes Wildschwein hatte, kein Keiler wie Grits Einstein, sondern eine Bache. Sie zog jedes Jahr zur Paarungszeit, die im November beginnt und bis in den Februar hinein andauern kann, wobei der Höhepunkt im Dezember liegt, in den Wald und ließ sich von einem Keiler decken. Sobald sie trächtig war, kehrte sie in ihren Stall zurück und brachte dort nach 114 bis 118 Tagen – »drei Monaten, drei Wochen, drei Tagen«; das ist im Übrigen dieselbe Tragzeit wie beim Hausschwein – ihren Nachwuchs zur Welt. Es war jedes Mal wieder eine Attraktion, wenn sie dann, sobald die Kleinen laufen konnten, mit ihren Frischlingen mitten durch den kleinen Kurort marschierte. Und das tat sie recht häufig, denn der Besitzer eines kleinen Ladens hatte immer ein Leckerchen für sie.
    Das hatte mir schon damals gezeigt, wie vertraut Wildschweine werden können und wie nah sie sich dem Menschen anschließen. Als ich Jahre später in der Eifel über drei Jahre hinweg eine Rotte intensiv und aus nächsterNähe studierte, quasi mit ihr lebte, konnte ich unglaubliche Dinge beobachten, die man diesen Tieren in der Form gar nicht zutrauen würde: beispielsweise ein stark ausgeprägtes Sozialverhalten und eine sehr hohe Fürsorglichkeit, zugleich eine enorme Aggressivität gegenüber Feinden.
    Das Wildschwein ist eine der erfolgreichsten Tierarten, die es gibt, sozusagen ein Erfolgsmodell der Evolution. Nicht umsonst war es ursprünglich in ganz Europa bis hinauf zum Ladogasee nördlich von St. Petersburg, in Vorder- und Zentralasien, auf der Arabischen Halbinsel und sogar in Afrika bis hinab in den Sudan verbreitet. Wildschweine sind absolute Generalisten und durch ihr sehr breites Nahrungsspektrum in der Lage, sich überall zu behaupten. Sie haben einen robusten Allesfressermagen, wie wir Menschen übrigens auch; das heißt, sie können sich carnivor (fleischfressend) und/oder vegetarisch ernähren. Sie können in den Korkeichenwäldern Nordafrikas genauso leben wie in den kalten Zirbelkieferwäldern Nordostsibiriens. Sie kommen in absoluter Wildnis genauso gut zurecht wie am Berliner Stadtrand. Eine so hohe Anpassungsfähigkeit ist unter Tieren sehr außergewöhnlich.
    Ihre Vermehrungsrate passen sie ebenfalls den Gegebenheiten an; das allerdings machen andere Tiere ebenfalls. Je reichhaltiger und nahrhafter ihre Nahrung ist, desto mehr Nachwuchs haben Wildschweine. Andererseits ist es so, dass bei Tieren, die eine hohe Reproduktionsquote haben, auch die Sterblichkeitsrate des Nachwuchses recht hoch ist. Eine Hirschkuh zum Beispiel, die im Jahr nur ein Kalb setzt, wird dieses in der Regel groß bekommen; bei Hirschen liegt die Aufzuchtquote bei über 99 Prozent. Wildschweine hingegen werfen im Durchschnitt sieben Junge – manche Bachen zehn, andere nur zwei. Nach einem Herbst mit besonders vielen Waldfrüchten wie Eichelnund Bucheckern hat eine Bache im darauffolgenden Jahr immer deutlich mehr Junge als nach einem schlechten Herbst. Würden alle Frischlinge das Erwachsenenleben erreichen, stiege der Bestand innerhalb weniger Jahre rapide an. Dem schiebt die Natur gelegentlich einen Riegel vor, zum Beispiel in Form von Schlechtwetterperioden im Frühjahr, sodass die Frischlinge, deren Wärmeregulation in den ersten Wochen noch nicht voll entwickelt ist, an Unterkühlung sterben, weil das Nest – in der Jägersprache »Kessel« –, das die Mutter aus

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