Ein deutscher Wandersommer
Zweigen baut, nur unzureichend Schutz gegen Nässe und Kälte bietet. So wie in dem Jahr unserer Wanderung, als es bis weit in den Mai hinein nasskalt war und Cleo und ich kaum Frischlinge zu Gesicht bekamen. Alle paar Jahre ein strenger Winter reicht als alleiniges Regulativ allerdings nicht aus. Und da wir ja über Jahrhunderte dafür gesorgt haben, dass ihre natürlichen Fressfeinde – Wolf, Bär und Luchs – in Deutschland keine Heimat mehr haben, sind die Wildschweine mancherorts eine regelrechte Plage. Der Anstieg der Wildschweinbestände in Mitteleuropa läuft auch parallel mit dem immer milder werdenden Klima und einer Intensivierung und Umstrukturierung der Landwirtschaft, speziell dem Maisanbau. Offensichtlich regt diese sehr nahrhafte Getreideart die Fruchtbarkeit der Bachen an.
Am Arendsee
In meiner Kindheit wussten wir, meine Familie, meine Freunde und ich, dass es an der Grenze einen wunderschönen großen See gab. Für uns aber war er unerreichbar, denn der Arendsee lag in der fünf Kilometer tiefen Sperrzone, die gleich hinter dem Ort Arendsee am Südufer begann.
Der Arendsee hat, anders als die meisten Naturseen in Norddeutschland, seinen Ursprung nicht in der Eiszeit, sondern verdankt seine Entstehung einer geologischen Besonderheit. Er liegt über dem »Dom« eines großen Salzstocks. Ein Dom ist ein aufsteigender Bereich oder Körper eines Materials, wie etwa der Magmadom in einem Vulkan. Dieser Salzstock wird durch das Grundwasser langsam aufgelöst, wodurch es immer wieder zu Einbrüchen kommt. Bei dem bislang letzten solchen Einsturz, im Jahr 1685, vergrößerte sich die Fläche des damals »Wendischer See« genannten Gewässers schlagartig um 200000 Quadratmeter! Man muss sich das mal vorstellen: ein See, der heute etwa über drei Kilometer lang und zwei Kilometer breit ist. Die Mühle des Ortes versank in den Fluten, und seit damals, so die Sage, heißen See und Ort nach dem betroffenen Müller Arend. Man kann die Abbruchkante am Südwestufer des Sees noch sehr gut erkennen, obwohl sie mittlerweile mit Erlen, Birken, Weiden und vereinzelt Eichen und Pappeln bewachsen ist. Das Zwischenlager Gorleben, das immer wieder auch als Endlagerstätte im Gespräch ist, liegt übrigens ebenfalls in einem Salzstock. Von wegen, das Atommülllager sei supersicher.
Der Arendsee ist mit bis zu fünfzig Metern Tiefe einer der tiefsten Seen Norddeutschlands und sehr fischreich – eine Besonderheit ist das Vorkommen der Kleinen Maräne, eines Forellenfischs, der ursprünglich in Nordeuropa beheimatet ist. Bis zu 7000 Grau-, Nonnen-, Saat- und Blessgänse aus den skandinavischen Ländern und Sibirien machen hier Rast oder überwintern gar. Sie schlafen nachts auf dem See, weil sie da vor Beutegreifern sicher sind – es sei denn, der See friert zu, was sehr selten vorkommt. Wenn morgens 7000 Gänse, in manchen Jahren waren es geschätzt sogar noch mehr, vom See hochstarten,verursachen sie einen unvorstellbaren Lärm, eine Geräuschkulisse, die man so nicht kennt und nicht für möglich halten würde. Ich habe mir dieses Schauspiel, von dem eine unglaubliche Faszination ausgeht, im folgenden Winter mehrmals angehört und es gefilmt und fotografiert. In der ersten Morgendämmerung fangen ein paar Gänse zu schnattern an. Dann werden es immer mehr. Schließlich ein seltsames Geräusch, bei dem man sich fragt: Was ist das denn? Dann flattern riesige Wolken hoch – und Gänse sind ja nicht gerade klein – und verteilen sich den Tag über auf die umliegenden Felder. Dort fressen sie die Wintersaat ab, Wintergerste, Winterweizen und Raps. Von irgendetwas müssen sie ja leben. Und was sie nicht fressen, treten sie mit ihren Paddelfüßen platt. Die Bauern der Region sind daher nicht allzu begeistert von den vielen Gänsen. Die Entschädigungszahlungen des Landes sind nur ein kleiner Trost für den angerichteten Schaden, und die Jäger, die unter anderem für Bestandsregulierung zuständig sind, sagen: »Mit Gänsen haben wir nichts zu schaffen – das ist nicht unser Ding.« Gänse schnattern und fressen aber nicht nur, sie koten auch. Bei 7000 Stück kommt da eine ganze Menge zusammen. Mehr, als dem See guttut.
Das ist die eine Seite. Die andere ist, ohne das negativ meinen zu wollen, die alte DDR - FDGB -Urlauberheim-Bungalow-Idylle am Südufer des Arendsees, denn Privilegierte oder Stasi-Leute durften sehr wohl hierherkommen: ein Kiosk, kleine Parzellen mit einer kleinen Laube – die man hier als Bungalow
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