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Ein deutscher Wandersommer

Ein deutscher Wandersommer

Titel: Ein deutscher Wandersommer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andreas Kieling
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bezeichnet – oder einem Wohnwagen und einer kleinen Hecke drumherum … Ein Segelverein, ein Tauchverein, alles sehr beschaulich und gemütlich. So auch der kleine Ort Arendsee. Nach der Wende kauften sich viele Hannoveraner am See Eigentum, weil es hier so schön und preiswert und ruhig ist.
    Cleo und ich lernten Heiko kennen. Heiko war in meinem Alter, also so um die fünfzig, Bademeister, Berufstaucher und – Wie nennen die sich? – Lebensgenießer. Ein bisschen wortkarg, charismatisch.
    »Mensch, hast du es schön hier!«, sagte ich zu ihm.
    »Ja, aber es war nicht immer so. Ich habe Familie, eine Frau und Kinder. Jetzt, wo die Kinder groß sind, lebe ich endlich einmal für mich.«
    Das hörte sich an, als wäre sein bisheriges Leben ein einziges Opfer gewesen. Nichtsdestotrotz machte er einen glücklichen und ausgeglichenen Eindruck.
    »Komm, wir gehen runter«, schlug er vor, als ich ihm erzählte, dass ich ebenfalls tauchte. »Wir gucken mal, ob wir Müller Arends Mühle finden.«
    Er wusste natürlich, wo die Mühle lag.
    »Wie tief liegt die denn?«, fragte ich.
    »So auf fünfunddreißig Meter.«
    »Viel sehen werden wir nicht«, meinte ich und deutete auf den See, dessen Wasser wegen der Algenblüte recht trüb war.
    »Das sind nur die ersten Meter. Sobald wir in die Sprungschicht reinkommen, wird das Wasser glasklar.«
    »Sprungschicht?«, fragte ich, der ich bis dahin in unseren Breitengraden noch nie in großen Seen getaucht war, nur in Flüssen und Wildwasserbächen. In kalten Gewässern zu tauchen ist übrigens unheimlich reizvoll. An der Ahr in der Eifel beispielsweise gibt es ein paar tiefe Stellen, an denen, wenn es lange nicht geregnet hat, das Wasser ganz klar ist. Dann kann man dort phantastische Tauchgänge machen. Dazu braucht es nicht unbedingt tropische Meere voll bunter Fische und Korallen.
    »Äh, wie kalt wird das denn da unten?«
    »Um die vier Grad.«
    »Wir sind doch hier nicht in den Alpen, der See muss doch mehr haben!«
    »Oben schon. Da hat er etwa zwanzig Grad.«
    Heiko suchte für sich eine Ausrüstung wie für einen Eistauchgang zusammen: Polar-Vlies-Unteranzug, darüber einen Trockentauchanzug mit Manschetten und Kragen, Oktopus (eine zusätzliche sogenannte zweite Stufe zur Sicherheit, falls die erste zweite Stufe, der Lungenautomat, über den man atmet, vereist). Mir drückte er einen Sieben-Millimeter-Neopren-Nassanzug in die Hand.
    »Du bist ja ein Harter«, meinte er, als er sah, wie ich zwischen seiner und meiner Ausrüstung hin- und herschaute. »Ich kenne dich aus dem Fernsehen, du wäschst dir sogar im Eiswasser im Hochgebirge die Haare.«
    Also bin ich in meiner Sommer-Mittelmeer-Tauchmontur in den See. Am Anfang war das Wasser angenehm warm, wir haben nur nichts gesehen wegen der Algenblüte. Sichtweite anderthalb bis zwei Meter. Mit Sicherheit wäre es reizvoller gewesen, im zeitigen Frühjahr zu tauchen, wenn die Hechte laichen und im flachen Wasser stehen, oder im Winter, wenn die Gänse auf dem See sind – wie sieht das wohl aus, wenn man da von unten hochguckt? Wir ließen uns ganz langsam absinken, kamen in die Sprungschicht. Das Wasser wurde klarer, aber auch kälter. Kurz darauf war es glasklar, unsere Lampen leuchteten plötzlich 25 Meter weit. Und eiskalt. In gut dreißig Meter Tiefe stießen wir auf den Weg, der zu Müller Arends Mühle führte: eine versunkene Straße, die tiefer in den See hineinführt. Dreihundert Jahre alt und immer noch gut zu erkennen, unglaublich. Mittlerweile bekam ich von der Käl-te wahnsinnige Kopfschmerzen und spürte meine Hände kaum mehr. Ich geriet ein bisschen in Panik und gab Heiko zu verstehen: Ich will hoch – ich werde vor Kälte ganz steif.
    Obwohl wir uns gleich an den Aufstieg machten und dabei die Dekompressionsstopps einhielten, fühlte ich mich nicht gut und hatte Kreislaufprobleme. Ein bisschen Ruhe kann nicht schaden, dachte ich mir, und so legten Cleo und ich uns für den Rest des Tages auf eine Wiese am Seeufer und ließen die Seele baumeln.
    Es gab einmal einen seltsamen Sonderling am Arendsee, Gustav Nagel (1874–1952). Als er wegen einer Krankheit seine Lehre abbrechen musste, baute er sich am See eine Erdhöhle, befasste sich mit Naturheilkunde und wurde Vegetarier. Er lief nur noch mit Talar oder Lendenschurz bekleidet herum und ging selbst im Winter barfuß. Nachdem man ihn entmündigt hatte, zog er als Wanderprediger bis nach Jerusalem. 1910 kam er zurück an den Arendsee, baute dort unter

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