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Ein dickes Fell

Titel: Ein dickes Fell Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Heinrich Steinfest
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oder zu verstärken. Jedenfalls tendiert das Chronische zum Theatralischen und Exzeptionellen und läßt sich gerne auf angebliche Wunder ein. Das ist dann aber selten das Ende der Geschichte.
    Doch Smolek war neugierig geworden. Denn hinter seiner grauen Fassade, seiner schieren Unbeschreibbarkeit, pochte – wie im Falle aller Götter – das Herz eines Experimentators. Er überlegte, daß es sinnvoll wäre, die tatsächliche Wirkung von 4711 an der eigenen Frau auszutesten, welche ja ebenfalls an einigen von den klassischen Beschwerden laborierte, sich mit ihrem Kreislauf herumärgerte, ihre Kniescheiben verteufelte, diverse Nervositäten erlebte und so weiter.
    Smolek trug das 4711 mit sich herum, als plane er, seine Frau zu vergiften. Was ihm natürlich nicht im Traum eingefallen wäre. Er mochte diesen Menschen, so wie man einen leeren Briefkasten mag, in dem wenigstens keine schlechten Nachrichten lauern. Smolek schätzte das Unfeierliche seiner Ehe.
    Andererseits war es nötig, jemand das 4711 innerlich zu verabreichen, ohne daß der Betreffende davon wußte und sich also zu irgendeiner eingebildeten Reaktion hätte hinreißen lassen können.
    Als seine Frau sich beim Abendessen erhob, um nach dem Tier zu sehen, das im Backrohr noch toter wurde, als es ohnehin schon war, nutzte Kurt Smolek die Gelegenheit und sprühte mittels des Zerstäubers Echt Kölnisch Wasser in das gefüllte Weinglas seiner Frau. Wobei er freilich nicht sagen konnte, welche Menge im Sinne einer therapeutischen Wirkung sinnvoll wäre. (Zuviel ist jedenfalls immer besser als zuwenig. Das Unglück der meisten Medizin besteht ja nicht in der Einnahme von Überdosen, sondern dadurch, daß wankelmütige Hausärzte zu geringe Mengen verschreiben.
    Smolek wollte diesen Fehler vermeiden, auch auf die Gefahr hin, daß seine Frau den Geschmack des Weins beanstanden würde. Wozu es allerdings nicht kam. Denn als Helga wenig später nach dem manipulierten Getränk griff, langte sie daneben und stieß das Glas um, so heftig, daß der rote Saft sich nicht nur über das weiße Tischtuch ausbreitete, sondern auch auf den Kerzenhalter, die Blumenvase und einen Korb mit Scheiben von Brot spritzte.
    »Jessas na!« rief Frau Smolek, klatschte leicht in die Hände, wie um diesen Händen einen strafenden Klaps zu verabreichen, erhob sich sodann und eilte in die Küche.
    Auch Kurt Smolek hatte »Jessas na!« gesagt, allerdings um ein Vielfaches leiser. Was nichts daran änderte, daß seine Anrufung des Gottessohns weit berechtigter erfolgte. Denn sie bezog sich keineswegs auf den Schaden eines befleckten Tischtuches, und auch nicht darauf, daß Frau Smolek solcherart dem 4711-Test entkommen war, sondern auf eine … nun, um es ganz klar zu sagen: auf eine Reaktion des Brotes.
    Jawohl! Das Brot hatte reagiert. Smolek hatte deutlich wahrgenommen, daß unter dem Einfluß einiger mit 4711 vermengter Rotweinspritzer die oberste Scheibe Brot sich von den äußeren Enden her aufwärts gebogen hatte, derart, daß das Brot zwei steile Kurven gebildet hatte, die Äste einer Parabel. Zwei, drei Sekunden vielleicht, dann waren die beiden angehobenen Teile der Brotscheibe wieder rasch nach unten gesunken. In etwa wie ein lebloser Körper, der von einem elektrischen Schlag kurz aufgerichtet, sogleich wieder in sich zusammenfällt.
    Daß war nun weder eine Einbildung gewesen, noch mit der Heftigkeit des umgestürzten Glases zu erklären. Die Biegung des Brotes, seine muntere Verformung, hing eindeutig mit den Tropfen der 4711-Rotwein-Mischung zusammen. Natürlich nicht mit deren materialer Wucht. Schließlich war hier kein Einschlag winziger Meteoriten erfolgt. Vielmehr mußte die ungewöhnliche, ja, spukhafte Reaktion des Brotes auf eine Wirkung der Essenz zurückzuführen sein. Davon war Smolek augenblicklich überzeugt gewesen. Wie auch davon, daß der Rotwein dabei bloß die Rolle eines Transporteurs gespielt hatte, während der zauberische Reflex des Brotes einzig und allein dem 4711 zu verdanken war.
    Für einen im Grunde leidenschaftslosen Menschen war Smolek ganz schön aufgewühlt gewesen und hatte alle Mühe gehabt, die Reinigung des Tisches und die Erledigung des Abendessens mit der üblichen Gelassenheit vorübergehen zu lassen. In der Nacht jedoch, als seine Frau bereits schlief, schlich er in die Küche, zog die im Mülleimer deponierte Brotscheibe aus den Abfällen und betrachtete sie eingehend. Das war definitiv das erste Stück Brot, dem er seine volle

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