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Ein dickes Fell

Titel: Ein dickes Fell Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Heinrich Steinfest
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Aufmerksamkeit und seinen ganzen Intellekt widmete. Weil definitiv das erste lebendige Brot seines Lebens.
    Aber so gebannt er auch hinsah, die Scheibe bewegte sich nicht, verbog sich nicht, schien ein ganz normales Stück Backware zu sein, von den verblaßten Rotweinflecken einmal abgesehen. Weshalb Smolek in seine Tasche griff und jenes schlanke Rollfläschchen der Firma 4711 hervorzog, die Kappe löste und den Zerstäuber auf die Oberfläche der Backware richtete. Sobald der feine Regen duftenden Wassers auf die wabenartig perforierte Brotmasse niederging, zuckte die Scheibe auf und bewegte sich nun sehr viel heftiger, aber auch unkoordinierter als zuvor, etwa in der Art eines genialen, aber vollkommen durchgedrehten Bodenturners. Allerdings dauerte auch diesmal die Aktivität nur kurz an. Keine drei Sekunden, dann sank die Scheibe zurück in ihre flache Ausgangsposition. Ein Brot auf dem Rücken. Bewegungslos, so wie es sich gehört.
    Kurt Smolek konstatierte in der Folge, daß eine stärkere Besprühung die Reaktion weiter steigerte, was ab einem bestimmten Grad dazu führte, daß das Brot auseinanderbrach. Milde gesagt. Denn in Wirklichkeit wurde es auseinandergerissen, sodaß die Krümel in der ganzen Küche herumflogen.
    Also schnitt Smolek ein weiteres Stück vom Laib herunter und konnte feststellen, daß die mysteriöse Wirkung von 4711 nicht auf eine bestimmte Scheibe beschränkt blieb. Brot allerdings mußte es sein. Weder eine Zitrone noch ein Stück Butter ließen sich unter dem Einfluß des Eau des Colognes zu einer unnatürlichen Geste hinreißen. Entweder, weil sie zu widerstehen verstanden, oder weil da nichts war, dem sie hätten widerstehen müssen. Aus dem einfachen Grund, weil Zitronen und Butterstücke unbelebte und unbelebbare Materie darstellten. Nicht aber Brot. Oder was sonst noch auf 4711 reagierte.
    Das war natürlich eine wesentliche Frage. Noch wesentlicher freilich die nach dem Sinn des Ganzen. Denn ein Ding ohne Sinn konnte sich Smolek nicht vorstellen. Darin unterschied er sich ganz wesentlich von den echten, großen Göttern, welche manchem sinnlosen Ding nur darum einen scheinbaren Zweck verliehen, um die Menschen in die Irre zu führen.
    Die beiden Fragen nun, die nach dem Sinn und die nach dem Material, ließen sich schlußendlich die eine durch die andere lösen. Denn am Ende zahlreicher Versuche mußte Smolek festhalten, daß man dank 4711 weder tote Hühner noch panierten Fisch kurzfristig zum Leben erwecken konnte. So wenig wie fußlose Schuhe oder herrenlose Pkws. Nein, neben Brot waren es allein diverse Teige sowie Ton, Plastilin und Lehm, die sich animieren ließen.
    Vor allem der Tatbestand eines zuckenden, sich verändernden Lehmklumpens führte dazu, daß Smolek die Legende vom Golem in den Sinn kam, jene aus Lehm geformte mystische Gestalt. Natürlich hatte er in diesen Tagen und Wochen der Suche und Versuche nicht jeglichen toten oder unbelebten Gegenstand mit 4711 eingesprüht, um wirklich sicher sein zu können, daß allein irgendwelche Knetmassen sich eigneten, aber für ihn sah es so aus, als hätte dieses ganze irrwitzige 4711-Rätsel einen Bezug zum Homunkulus der jüdischen Sagenwelt.
    Das war für ihn nichts Neues, sich einen Golem vorzustellen. In seiner Familie besaß dies geradezu Tradition. Überhaupt muß gesagt werden, daß sehr viel mehr Menschen als angenommen, solche Golems und Homunkulusse für wahrscheinlich halten. Eher glauben die Leute an eine auferstandene Marionette als an die Himmelfahrt einer Heiligen. Pinocchio ist aktueller und lebendiger als Maria. Freilich gehört sowas zu den Themen, welche die Leute lieber mit ins Bett nehmen, als im Büro darüber zu sprechen. Die ganze Aufklärung hat uns bloß eine große Scham und eine Flucht in Intimitäten beschert. Es herrscht der Biedermeier des Aberglaubens.
    Kurt Smolek kannte sich also aus. Er wußte, daß der kabbalistischen Lehre zufolge jenes Stück Pergament, das man der noch seelenlosen und unbeweglichen Lehmfigur auf die Stirn heftete, mit dem aus vier Buchstaben bestehenden Namen Gottes beschriftet sein müsse: JHVH. Erst der Name Gottes konnte den Golem zum Leben erwecken.
    Vier Buchstaben also. Smolek überlegte. Warum nicht vier Ziffern? Ihm schien in einer säkularisierten, in die Zahl verliebten Welt die Verwandlung des Namen Gottes mehr als gerechtfertigt. 4711 statt JHVH. Ja, warum nicht? 4711 als der neue Name Gottes in einer modernen Welt.
    Freilich mußte in diesem Fall

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