Ein dickes Fell
Smoleks moderne Welt in das neunzehnte Jahrhundert zurückreichen, wenn man bedachte, daß das Wahrzeichen 4711 im Jahre 1875 eingetragen worden war. Eine Ziffernreihe, die schlichterweise aus der von den französischen Besatzern 1796 verordneten Kölner Häusernumerierung resultierte. Im Haus Nr. 4711 war die Produktion jenes speziellen Echt Kölnisch Wassers erfolgt. Überhaupt scheint diese ganze Angelegenheit stark abhängig von den Einmischungen und Anmaßungen der Franzosen, die im Grunde ahnungs- und gottlos einer göttlichen Zahl zu ihrem Durchbruch verhalfen.
Wenn man nun davon ausging – und Smolek ging davon aus –, daß 4711 dieselbe Bedeutung, Magie und Kraft wie JHVH einnahm und als Mixtur in etwa die Wirkung eines sogenannten Pentakels besaß, so war es nicht mehr ganz so verwunderlich, daß ein wenig Lehm oder Ton oder Brot stromstoßartig zu zucken begannen. Die Umwandlung von vier Buchstaben in vier Ziffern, die Materialisation dieser vier Ziffern mittels der Verbreitung von Duftwasser, die schicksalhafte Rolle der Franzosen, das alles empfand Kurt Smolek auf eine verspielte Weise als folgerichtig. Ja, logisch. Dazu paßte auch bestens der Umstand, daß ausgerechnet ein Kartäusermönch es gewesen war, welcher 1792 jene Rezeptur des späteren 4711 einem jungen Kaufmann als Hochzeitsgeschenk vermacht hatte. Ein Kaufmann, der sich dann übrigens den Familiennamen des Mönchs vertraglich gesichert hatte: Farina.
Die meisten der Kölner Wunderwasserhersteller benutzten diesen Namen. Nun passierte es aber acht Jahrzehnte später, daß der Enkel jenes gewieften Kaufmanns selbigen Markennamen eines Gerichtsbeschlusses wegen wieder aufgeben mußte. Nicht minder gewieft – oder auch nur einer Eingebung folgend –, entschloß er sich, den scheinbar zufälligen Umstand einer Häusernumerierung auszunutzen, um seinem Kölnisch Wasser einen zugkräftigen und merkbaren Titel zu verleihen. Solcherart war der Name Gottes versteckt in die Welt getreten, um ein Jahrhundert später von den Regalen der Parfümerien, noch später der Drogeriemärkte in Blau und Gold herunterzuleuchten. So einfach.
So einfach, aber auch kompliziert. Denn obgleich Gottes Name für jedermann sichtbar bis heute komische kleine Flakons ziert, bleibt es andererseits unklar, was sich in diesen Flakons eigentlich befindet. Natürlich sind die wichtigsten Bestandteile bekannt, nichts Aufregendes, ätherische Öle halt. Die exakte Formel aber ist Geheimsache. Unbekannt somit jenes
I-Tüpfelchen, das einer Sache erst ihr Profil verleiht. Beziehungsweise ein vom Wunderwasser zum Duftwasser mutiertes Produkt um die erstaunliche Fähigkeit bereichert, Lehmklumpen hüpfen zu lassen. Wenn nicht noch weit mehr.
Es war übrigens kaum anzunehmen, daß die heutigen Besitzer von 4711 die geringste Ahnung davon besaßen, was es mit dieser einen Artikelserie auf sich hatte. Was hätten sie auch tun sollen? Gott vom Markt nehmen? Wegen dem bißchen Brot, das hin und wieder wackelte, wenn jemand bei Tisch danebensprühte.
Kurt Smolek freilich besaß das lebhafteste Interesse, dem Geheimnis auf die Spur zu kommen. Denn die Möglichkeit, aus humanoiden Lehmklumpen oder auch einem Plastilinmännchen ein nicht bloß zuckendes, sondern tatsächlich handelndes Wesen zu schaffen, begeisterte ihn. Er war überzeugt, daß 4711 nicht nur für JHVH stand, sondern auch den Odem darstellte, dank welchem Leben, wirkliches Leben, in die tote Materie eingehaucht werden konnte.
Nach und nach aber ging Smoleks Begeisterung mit einer ansteigenden Verbissenheit einher, auch wenn er zunächst vermied, irgend jemand diese Verbissenheit spüren zu lassen. Seine Neugierde für 4711, seine getarnten Recherchen im Kölner Stammhaus, seine Gespräche mit Nachfahren des Mönchs Johann Maria Farina, dem Begründer von Kölnisch Wasser, dies alles praktizierte er mit der bleichen Erhabenheit des Wiener Beamten und Archivars. Man glaubte ihm gerne, daß er nichts Schlimmeres vorhatte, als eine historische Studie zu betreiben, welche um die Bedeutung Kölner Wassers im Wien des neunzehnten Jahrhunderts kreiste.
Dennoch mußte Smolek zur Kenntnis nehmen, daß an der Geheimhaltung der Rezeptur nicht gerüttelt wurde. Eine Frage des Prinzips, das für jene, die darauf zu bestehen hatten, allein mittels genau dieses Beharrens seinen Sinn zu erhalten schien. Wie jemand, der nur darum andauernd redet, um keine Fragen gestellt zu bekommen. Welche Vorwände Smolek auch immer
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