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Ein dickes Fell

Titel: Ein dickes Fell Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Heinrich Steinfest
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Carl zu verschleppen.
    Was hingegen Apostolo Janota erfuhr oder nicht erfuhr, begriff oder nicht begriff, erschien Anna bedeutungslos. Sie war noch immer fest entschlossen, diesen Mann zu töten und also ihre Zusage einzuhalten. Ihr Argument mit der Moral war keine Floskel gewesen. Es handelte sich allein um einen Aufschub. Einen Aufschub aus Gründen der Vernunft. Auch wenn diese Vernunft auf Instinkt basierte.
    Übrigens muß gesagt werden, daß Anna sich nur unter Aufwendung größter Willenskraft aufrecht hielt. Die Angst um ihr Kind wäre geeignet gewesen, einen Zusammenbruch zu erleiden. Aber das wußte sie natürlich, daß ein Zusammenbruch nichts bringen würde. Daß weibliche Zusammenbrüche allein dazu dienten, die Arbeit an die Männern abzutreten, damit aber auch die Übersicht. Wenn denn eine Frau glaubte, sich auf Männer verlassen zu können. Das glaubte Anna jedoch mitnichten. Darum bewahrte sie Haltung, behielt die Nerven und sprach ohne jedes Zittern in der Stimme, als sie Cheng nun fragte, ob ihm schon einmal der Begriff »Aqua Mirabilis« untergekommen sei.
    Cheng verneinte.
    »Ein Wunderwasser«, sagte Anna und beschrieb die Geschichte jenes Echt Kölnisch Wassers, welches unter der einprägsamen, nummernschloßartigen Markenbezeichnung 4711 in die Welt der Wohlgerüche eingegangen war.
    Wesentlicher als das Verbreiten von Düften auf Körpern, auf daß dann diese Düfte in die Nasen der Zielpersonen strömten, war jedoch in diesem Fall der historische Umstand, daß Kölnisch Wasser einst innerlich zur Anwendung gekommen war, um etwa Herzklopfen und Kopfschmerzen zu vertreiben oder einem allgemeinen Unwohlsein entgegenzuwirken.
    Kölnisch Wasser hatte wahre und vielleicht auch nicht ganz so wahre Wunder bewirkt, um erst im Zuge eines Napoleonischen Dekrets die ursprüngliche, zutiefst medizinische, also mirakulöse Bedeutung einzubüßen. Denn der listige Bonaparte hatte in seinem aufklärerisch-kaiserlichen Wahn beschlossen, daß Geheimrezepturen für Arzneimittel öffentlich zu machen seien. Als wäre es nicht der Sinn einer Geheimrezeptur, geheim zu bleiben. Wie das Wunder darin besteht, daß es nicht erklärt werden kann. Ein erklärtes, enträtseltes Wunder ist wie ein lebender, aber zur Gänze gerupfter Vogel. Er sieht nicht nur häßlich aus, er kann auch nicht mehr fliegen.
    Einen gerupften Vogel wollten die Produzenten von Kölnisch Wasser unbedingt verhindern, weshalb sie – nicht minder listig – ihr eigenes Kind verleugneten, zumindest die großen Talente ihres Kindes. Sie entschlossen sich, ihr Wunderwasser in ein Duftwasser umzufunktionieren und solcherart die Geheimhaltung der Ingredienzen zu erhalten. Um beim Vogelbeispiel zu bleiben: Der Vogel wurde zwar nicht gerupft, jedoch in einen Käfig gesperrt, was an seiner Flugfähigkeit zunächst nichts änderte, seine Flugmöglichkeiten aber deutlich einschränkte. Es ist ja wohl ein Unterschied, ob man eine heilende oder bloß noch eine belebende Wirkung für sich in Anspruch nimmt. Ob man Wunder oder Düfte verspricht.
    Jedenfalls führte jene »Tarnung«, jene Verwandlung eines Arzneimittels in ein Parfüm dazu, daß 4711 bei aller Popularität, welche die Essenz im Laufe der Zeit gewann, nur noch eingeschränkt als ein mirabilisches Wasser verstanden wurde und wird, welches es aber genaugenommen noch immer darstellt. Doch wer kommt schon auf die Idee, ein paar Tropfen aus dem in Blau und Gold etikettierten Fläschchen in seinen Wein oder sein Bier zu tun, sich in die Nase zu träufeln, gleich einem homöopathischen Mittel auf die Zunge zu tröpfeln oder am besten einen kräftigen Schluck zu nehmen? Wer schon?
    Nun, Kurt Smolek war auf die Idee gekommen, wer auch immer ihm dazu geraten hatte. Wobei Smolek auf Grund seiner Vorliebe für Klosterfrau Melissengeist sich schwergetan hatte, ein anderes Wässerchen auch nur in Betracht zu ziehen. Aber zwischen äußerer und innerer Anwendung war natürlich ein Unterschied. Denn schließlich war Smolek kein Säufer, der alles schluckte, woran Alkohol beteiligt war. Klosterfrau Melissengeist hatte er immer nur auf die Haut aufgetragen.
    4711 hingegen probierte er. Und staunte nicht schlecht, als sich nach wenigen Tagen einige seiner chronischen Leiden in Luft auflösten. Doch das allein wäre es nicht gewesen. Man weiß ja, wie das mit allem Chronischen ist, welches tief, tief in der Seele nistet und allzu bereit ist, sich dank Placebo und Initialzündungen zu verabschieden, umzuwandeln

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