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Ein dickes Fell

Titel: Ein dickes Fell Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Heinrich Steinfest
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enttäuscht, seine Stimme schärfer stellend: »Dann wäre es besser, wenn du mir die Pistole in die Hand legst. Bevor da was passiert.«
    »Ich bin kein Baby mehr«, sagte Lena und befahl Pavor, sich nicht zu rühren. Sie klang verärgert. Schon wieder so ein Erwachsener, der nicht begreifen wollte. Na, vielleicht würde der andere von den beiden klüger sein, Markus Cheng. An ihn richtete sich die Kein-Baby-mehr-Lena, als sie jetzt fragte:
    »Wenn Sie das überleben, heiraten Sie dann meine Mutter?«
    »Oh!« Cheng schluckte. Er konnte nur so staunen.
    »Eine Antwort wäre gut«, mahnte das Mädchen.
    »Ja«, sagte Cheng.
    »Was ja?«
    »Ja, ich würde deine Mutter heiraten.«
    Cheng hatte eilig und ohne Zweifel gesprochen. Nicht aber spontan. Das sicher nicht. Er hielt es einfach für ratsam.
    »Gut«, sagte Lena und rief: »Hier oben, Mama, er ist hier oben!«
    In diesem Moment stürzte Pavor, der das Seil fallen ließ, auf Lena zu. Das Kind schoß. Cheng meinte trotz der Schnelligkeit deutlich zu erkennen, daß sie nicht einfach nur abdrückte, sondern ein Auge schloß, um solcherart besser zielen zu können. Es soll natürlich nicht gesagt werden, daß dieses Kind, das immerhin Cheng das Leben rettete, Gregor Pavor mit Absicht mitten ins Herz traf. Das wäre ungerecht. Es soll nur gesagt werden … ja, daß sie ein Auge schloß, wie um zu zielen. Aber dies hatte ja bloß Cheng bemerken können. Und vergaß es auch gleich wieder.
    Eine Weile stand Lena da und sah hinunter auf den reglosen Körper. Sie schien nachzudenken, wirkte interessiert, wissenschaftlich.
    Cheng sagte nichts. Wozu auch das Kind stören? Er wollte lieber warten, bis Frau Rubinstein hier war.
    Was auch nicht lange dauerte. Offensichtlich hatte sie den Ruf Lenas vernommen. Zusammen mit Frau Dussek, die nun wieder angezogen war, kam sie hereingerannt.
    »Ich habe dir doch gesagt, du sollst nicht allein …« Dann erblickte sie den Mann am Boden, Cheng am Tisch und die Pistole in der Hand ihrer Tochter.
    »Mama!« rief das Kind, ließ die Waffe fallen und stürzte unter plötzlich ausbrechenden Tränen auf ihre Mutter zu und in deren Arme hinein.
    Es muß nun gesagt werden – und dies war auch Chengs Überzeugung –, daß Lena keineswegs Theater spielte. Sie war ein Kind, ein berechnendes, mag sein, ein launisches, vielleicht, ein forschendes, natürlich, aber es lag dem sicher kein Schauspiel zu Grunde, daß sie mit dem Erscheinen ihrer Mutter am Tatort in jene Hilflosigkeit und Angst und Verwirrtheit verfiel, die ihrer Elfjährigkeit eben auch entsprach. Und nicht nur die Neugierde am Bösen. Der elfjährige Mensch ist ein Mensch, der sich nicht entscheiden kann zwischen Schuld und Unschuld, zwischen Wissen und Nichtwissen, der immer wieder aus seinen Experimenten aussteigt, um erneut das alte Kinderleben aufzunehmen, fast wie eine multiple Persönlichkeit.
    »Könnten Sie mir helfen«, ließ sich Cheng vernehmen, obwohl nun eigentlich keine Gefahr mehr bestand, das Seil ohne Zug war. Aber er wollte vorsichtig sein. Fürchtete ein spätes Mißgeschick, wie man Kerne in entkernten Früchten fürchtet.
    Frau Rubinstein hatte sich sofort unter Kontrolle, wies die heulende und fluchende Frau Dussek an, die Polizei zu rufen, wies ihr Kind an, im Raum stehen zu bleiben und sich nicht zu bewegen, und machte sich dann ihrerseits daran, sachte auf den Tisch zu steigen und zu allererst Cheng von der tödlichen Schlinge zu befreien. Dabei warf sie ihm einen besorgten, leicht vorwurfsvollen Blick zu, wie man das mit Jungen tut, die mit aufgeschundenen Knien vom Fußball heimkommen. Genau der Blick, auf den Männer so total abfahren, weil sie das eben an eine gute Mutter oder auch nur an die Vorstellung einer guten Mutter erinnert. Ein Ausdruck, in welchem die Strenge und die Güte sich perfekt verschränken, so daß man gerne das eine für das andere hält und über kurz oder lang danach süchtig wird.
    Umso besser, fand Cheng, daß die sportlich-elegante Frau Rubinstein ansonsten eher unmütterlich wirkte; Man könnte sagen aufgeklärt, säkular, modern, italienisch, allerdings norditalienisch. Doch diesen bestimmten, eher süditalienisch zu nennenden Mutter-Blick angesichts malträtierter Knie und ähnlichem beherrschte sie nun mal. Eine gute Kombination. Denn immerhin mußte sich Cheng vorstellen, daß er mit dieser Frau und diesem Blick möglicherweise demnächst zusammenleben würde. Nicht etwa, weil es ihn drängte, nochmals zu heiraten, oder er

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