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Ein dickes Fell

Titel: Ein dickes Fell Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Heinrich Steinfest
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andere saßen auf Bettkanten und stierten in jene Ewigkeit hinein, die sich ihrem verfallenden Körper noch verweigerte. Manche Stimme drang durch Wände, mancher Mund blieb so offen wie tonlos. Im Kontrast dazu saßen um einen Tisch herum ein paar Damen, die zwar einen etwas trotteligen, aber gepflegten und amüsierten Eindruck machten. Sie trugen Straßenkleidung, schlürften Suppe aus zierlichen Tassen und hatten Spielkarten in den Händen, ohne die Karten auch auszuspielen. Aber es lag viel Würde und Noblesse in der Art, wie sie an ihrem Blatt, wie gut oder schlecht es auch sein mochte, festhielten. Sie bemerkten Cheng augenblicklich, wandten sich ihm zu, nickten und lächelten. Sie wirkten auf eine erfreuliche Weise französisch, was es ja auch gibt, das erfreulich Französische.
    Darin bestand das eigentlich Schockierende, in diesem Nebeneinander von Todkranken und Unansprechbaren einerseits, und den paar Damenkränzchen andererseits. Vornehme, rüstige, parfümierte Rentnerinnen, sichtlich um Kaffeehauskultur bemüht. Die Damen Offiziere auf dem sinkenden Schiff des Lebens. Umgeben von Betten und plärrenden Fernsehgeräten. Wieso die Fernseher liefen, blieb unklar. Niemand schien hinzusehen. Wahrscheinlich stammten diese Geräte von den lieben Verwandten, die sich solcherart hier verewigt hatten. Was nur auf den ersten Moment ein schrecklicher Gedanke war. In der Regel aber waren Fernseher wahrscheinlich ein ganz guter Familienersatz. Was aber noch lange kein Grund war, sie mit derartiger Lautstärke laufen zu lassen.
    Cheng marschierte in den hintersten Raum und wandte sich an eine Pflegerin, die gerade die so gut wie unangetasteten, mit Kompott gefüllten Glasschalen einsammelte. Pfirsichkompott, bei dessen Anblick Cheng übel wurde. Den Knoblauchgeruch alleine hätte er ausgehalten, aber angesichts im Saft schwimmender Pfirsichstücke, die an große, durch ein Eiklar treibende Dotter erinnerten, wankte er ein wenig. Dabei hielt er kurz den Arm der Pflegerin.
    »Meine Güte, was ist mit Ihnen?«
    »Nichts. Entschuldigen Sie … die Hitze.«
    Er riß sich zusammen, ließ den Arm der jungen Frau los, wischte sich den Schweiß von der Stirne und fragte nach Mascha Reti. Die Pflegerin, die fortfuhr, die Schalen auf einem Wägelchen abzustellen, zeigte auf ein Bett nahe am Fenster, gegen dessen vorderes Ende ein Rollstuhl geparkt war. Das grelle Winterlicht hinter der Scheibe mutete ziemlich himmlisch an. Und auch die Frau, die Cheng nun betrachtete, schien sehr viel näher dem Himmel als der Erde zu sein. Sie würde es bald hinter sich haben.
    » Das ist Frau Reti?« erkundigte sich Cheng ein weiteres Mal.
    »Ja.«
    Nun, Cheng hatte Frau Reti bisher nur aus der Schilderung Anna Geminis gekannt und dabei die Vorstellung einer robusten, kräftigen, den Kopf äußerst gerade haltenden, aristokratisch herrischen Dame entwickelt. Sehr hager, sehr weißhaarig und die meiste Zeit von einem Mann bewacht, der den schönen Namen Thanhouser trug und das Musterbild eines gutgebauten, stoischen Arabers darstellte. Doch weder war Herr Thanhouser zugegen, noch erinnerte die Frau, die hier im Bett lag und mit einem so verklärten wie toten Ausdruck zum Fenster sah, an Chengs Vorstellung von Frau Reti. Und ebensowenig simulierte diese Person. Nein, die Frau, zu der er hinuntersah, war ohne Zweifel längst entrückt. Sehr schwammig und sehr bleich. Wobei dies freilich mit einer speziellen Behandlungsform zusammenhängen konnte, das Bleiche und Schwammige. Sicher aber nicht das Faktum roter Haare.
    »Haben Sie Frau Reti die Haare gefärbt?« fragte Cheng die Pflegerin, die sich eigentlich hatte entfernen wollen.
    Sie kam zurück, sah Cheng verwundert an und meinte:
    »Gefärbt?«
    »Ja. Die roten Haare.«
    »Was glauben Sie denn? Daß wir soviel Zeit haben, Menschen, die im Sterben liegen, die Haare zu färben. Frau Reti kam mit roten Haaren zu uns. Haben Sie ein Problem damit? Wer sind Sie überhaupt?«
    »Ich würde gerne mit Herrn Thanhouser sprechen.«
    »Wieso?«
    »Sagen Sie mir einfach, wo ich ihn finde. Ich wäre Ihnen sehr verbunden.«
    »Er macht gerade eine kleine Pause … Also … das ist nicht ganz in Ordnung. Er sollte eigentlich hier sein. Aber der Job macht einen kaputt. Da muß man hin und wieder …«
    »Ich bin weder ein Verwandter noch von der Inspektion.«
    Die Pflegerin erklärte Cheng den Weg, der zu jenem kleinen Raum führte, der den Pflegern zur Verfügung stand, sich ein wenig auszuruhen.
    Während

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