Ein dickes Fell
Einige auch vorwurfsvoll. Nichts gegen Behinderte, aber Dürer war Dürer und die Albertina einfach der falsche Ort, um mit einem solchen Kind hier herumzuspazieren. Ganz abgesehen davon, daß auch ein Behinderter angesichts von Dürer seine Mütze hätte vom Kopf nehmen können. Beziehungsweise hätte seine Mutter dafür sorgen müssen. Dachten die Leute, wie man ihnen ansah.
Als ich losging, zu der Frau und ihrem Sohn hin, tat ich das, ohne zu überlegen. Ein reiner Impuls. Obgleich ich ja wußte, um wen es sich handeln mußte und warum sie hier war. Wobei dies keineswegs einer Abmachung entsprach. Wir hatten also nicht vereinbart, wo und wann genau Einar sterben sollte. Ich hatte in einem zweiten kurzen Telefonat bloß erwähnt, unter welchem Vorwand ich die Reise erzwungen hatte und an welchem Vormittag wir die Ausstellung besuchen würden beziehungsweise wie lange wir in der Stadt bleiben wollten. An die Ausstellung als Ort der Tötung hatte ich keinen Moment gedacht. Nun aber stand diese Frau vor mir, eine blonde Person, hager wie ihr Sohn. Ein wenig kränklich vom Stil her, attraktiv kränklich, zudem elegant gekleidet, klassisch, eine Ballerina am Ende ihrer Laufbahn. Zumindest als Ballerina.
Ich betrachtete die Tasche, die sie am Arm trug, und überlegte, daß dies wohl der logische Platz einer Waffe sei. Zwischen Lippenstift und Terminkalender. Ein wenig klischeehaft, aber praktisch. Ich blickte sie mit einem Lächeln an und sagte:
»Kann ich Ihnen helfen?«
»Mein Sohn heißt Carl«, sagte sie und daß sie einen Vierzehnjährigen unmöglich auf die Damentoilette mitnehmen könne, andererseits Carl es nicht gerne habe, allein gelassen zu werden. Gerade nicht in einer solchen Menge von Menschen.
Nun, mir schien eher, daß die Frau das Problem hatte, nicht ihr Sohn. Daß sie, die Mutter, sich schwertat, ihren Jungen auch nur eine Sekunde sich selbst zu überlassen. Und somit in Ausnahmefällen wenigstens jemand anders die Rolle des Behüters und Unterhalters zu übernehmen hatte. Und genau das tat ich nun. Die Frau zeigte sich erleichtert, gab ihrem Sohn einen Kuß auf die verdeckte Stirn und ging. Ich war überzeugt, daß sie nicht wußte, wer ich war, daß sie meine Stimme nicht erkannt hatte. So wie ich überzeugt war, daß der gute, arme Einar nur noch wenige Momente zu leben hatte. Mir wurde schwindelig.
Carl und ich verstanden uns. Ich redete mit ihm wie mit einem normalen Jungen, obgleich er das ganz eindeutig nicht war. Er war besonders. Behindert, das auch, aber in besonderer Weise.
Wirklich faszinierend war der Augenblick, da Carl unter Ausstoßen spitzer Laute eine Mimik produzierte, die mir sofort bekannt vorkam. Was kein Wunder war. Ich begriff, daß Carl das Gesicht von Kaiser Maximilian I. vorführte, so wie der Habsburger von Dürer porträtiert worden war. Ich hatte das Bild ja eben noch betrachtet. Was der Junge da aufführte, war keine Karikatur, sondern bewies, wie genau er das Gemälde studiert hatte und wie sehr er diesen lasziv-größenwahnsinnigen Monarchenblick anzunehmen verstand. Ich muß gestehen: Carl verschaffte mir einen Zugang zu Dürer. Zumindest einen idealeren, als ich bisher besessen hatte.
Es mochten wenig mehr als fünfzehn Minuten vergangen sein, als Carls Mutter zurückkam. Sie wirkte in keiner Weise erregt oder gehetzt, nicht einmal künstlich gelassen. Sie trat auf wie jemand, der etwas länger als geplant auf der Toilette gewesen war, bedankte sich bei mir, hängte sich in Carls Arm ein und dirigierte ihn durch die Menge, auf ein bestimmtes Bild zu. Offensichtlich hatte sie vor, sich die Ausstellung zu Ende anzusehen. Ich begann zu zweifeln, daß sie jene Person war, für die ich sie gehalten hatte. Zweifelte, daß Einar tot war.
Aber da irrte ich. Eine halbe Stunde später spürte ich die Hand eines Mannes auf meinem Arm, welcher sich nahe heranbeugte und mich im Flüsterton fragte, ob ich Frau Gude sei. Als ich nickte, bat er mich, ihn zu begleiten. Weil ich nun aber fand, daß dies dazugehörte, erkundigte ich mich, was geschehen sei.
Der Kerl mit der Flüsterstimme machte das Gesicht eines Oberkellners, dem es nicht zustand, über die Buchhaltung des Hauses Auskunft zu geben. Er schwieg also. Und brachte mich, um bei dem Bild zu bleiben, zum Chefbuchhalter. Beziehungsweise zu den Buchhaltern. Eine Runde von Herren, zwei Kriminalisten, dazu der Leiter der Albertina sowie ein Polizist in Uniform. Man empfing mich in einem Büro. Der Museumsdirektor
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