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Ein dickes Fell

Titel: Ein dickes Fell Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Heinrich Steinfest
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eine Hölle von Schmerzen. Kurz, sehr kurz, aber nie war etwas länger.«
    »Na, du lebst ja noch.«
    »Ja, der Tod ist so gesehen das kleinere Problem.«
    »Und trotzdem willst du ewig leben.«
    »Wenn man diese Arznei richtig einnimmt, wirkt sie auch richtig. Richtig heißt also, im Augenblick, da man stirbt. Nicht davor, und auch nicht danach, wie sich denken läßt. Jetzt verstehst du vielleicht, warum es mich nervös macht, daß das 4711 bei dir ist, statt bei mir. Ich hätte es gerne in meiner Nähe.«
    »Bewacht von einer Schlange?«
    »Ich hätte einen Gladiator hinstellen sollen. Noch besser wäre freilich gewesen, das Fläschchen niemals aus der Hand zu geben. Aber da gibt es ein Problem. In dieser alten Schrift der Kartäuser wird davor gewarnt, dringend gewarnt, das 4711 allzu großen Erschütterungen auszusetzen.«
    »Was könnte geschehen?« fragte ich.
    »Etwas in der Art einer Explosion«, erklärte Sam. »Die Mönche sagen nicht, wie man sich diese Explosion genau vorzustellen hat. Aber ungemein wirksam und ziemlich erdumspannend. Jedenfalls fand ich es zu riskant, das Fläschchen zum Joggen mitzunehmen.«
    »Ich war schon immer der Meinung, daß diese Lauferei unsinnig ist.«
    »Eine Sucht«, stellte Soluschka fest. »Schlimmer als Kokain, schlimmer als alles andere. Kaum zu begreifen. Traurig eigentlich.«
    Nun, weit trauriger fand ich die Möglichkeit, daß die Welt eventuell an einer irgendwie zerberstenden Rollflasche 4711 zugrunde gehen könnte. Oder noch ungemütlicher wurde, als sie das ohnehin schon war. Man stelle sich vor: ganz Europa als Westjordanland. Oder: ganz Europa wie in einem perversen Videospiel, in dem »ganz normale« Zwölfjährige die Länder regieren. Oder was man sich sonst noch so ausdenken kann an Steigerungen des Ungemütlichen.
    Wenn ich in dieser Geschichte von einer geheimen Kraft, einem Instinkt, einem tiefen Wissen oder ähnlichem angetrieben worden war, schien das also wirklich seinen guten Grund zu haben. Dieses Fläschchen 4711 war eine Bombe, deren Wirkung so beträchtlich wie namenlos schien. Ein Fläschchen, das sehr viel besser in einem Tresorraum aufgehoben war als im privaten Schlangenzimmer eines poppigen Starschriftstellers, der vom ewigen Leben träumte. Sam war verblendet. Rücksichtslos gegen die Welt. Wenn er darauf geachtet hatte, daß das 4711 nicht auseinanderflog, dann nur darum, weil er als erster mitgeflogen wäre.
    Ich sagte ihm, er sei der letzte, der sich eignen würde, das Fläschchen aufzubewahren.
    »Deine Meinung«, sagte Sam.
    »Meine Meinung zählt«, erinnerte ich ihn und verwies darauf, daß ich das 4711 an einem sicheren Ort deponiert habe und er doch wohl begreifen müsse, wie wenig mich seine Einschüchterungsversuche tangieren würden.
    Er war so schnell von seinem Sitz aufgesprungen, daß ich kaum dazu kam, meine Hände schützend anzuheben. Sein Schlag mit der offenen, flachen Hand traf mich im Gesicht und schleuderte mich nach hinten, denn ich war ja noch immer aufrecht dagestanden. Ich prallte gegen die Wand, beziehungsweise stieß mein Hinterkopf gegen das Profil eines Bilderrahmens. Ich spürte Blätter und Ranken und Obst, vergoldete Ornamente, ich spürte sie vor allem darum, weil Sam mir rasch gefolgt war, meinen Schädel gepackt hatte und gegen den Rahmen drückte.
    Ich war kurz davor, das Bewußtsein zu verlieren. Ich registrierte eine aufsteigende Bodenlosigkeit unter den Füßen. Ein Gefühl, als lösten sich meine Highheels auf. Dennoch versuchte ich aus meinem zusammengedrückten Mund, den gegeneinander verschobenen Lippen einen erhabenen Tonfall zu entlassen. Freilich klang es ziemlich zerquetscht, als ich jetzt meinte: »Das bringt dich auch nicht weiter, Sam.«
    »Gib mir das 4711!« schrie Sam. Er zitterte.
    »Nein«, sagte ich. Soviel kriegte ich noch hin. Meine Highheels waren verschwunden. Ich fiel in eine Nacht ohne Sterne. Ohne Mond. Ohne Kirchengeläut.
     
    Als ich erwachte, lag ich auf dem Sofa. Über mir das Dienstmädchen. Neben mir unser Hausarzt, der meine Hand hielt. Ein Glück, daß das Dienstmädchen sich geweigert hatte, den Raum zu verlassen, nachdem sie mich gefunden hatte. Dieser Arzt war ein Dreckskerl. Niemand, dem ich mich bewußtlos gerne ausgeliefert hätte. Als Mediziner besaß er freilich seine Qualitäten. Ihm war klar, daß ich geschlagen worden war. So wie ihm klar war, daß ich darüber nicht sprechen wollte.
    »Eine kleine Gehirnerschütterung«, sagte er schließlich. »Und wie

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