Ein diebisches Vergnügen
gefährliches Pflaster zu sein«, sagte er. »Wo stecken bloß die Langfinger? Haben die freitags dienstfrei? Fahren die schon ins verlängerte Wochenende? Kein Mensch interessiert sich für meine Taschen oder Ihre Handtasche, und dabei sind wir schon seit einer Stunde in Marseille. Übung macht bekanntlich den Meister, und wenn die Jungs so weitermachen, rosten sie ein und verlieren ihre Fingerfertigkeit.«
Sophie tätschelte seinen Arm. »Keine Sorge. Wir fragen Philippe. Er kann Ihnen sagen, wo Sie hingehen sollen, um sich – wie sagt man – nach allen Regeln der Kunst ausrauben zu lassen.« Sie blieb stehen, um den Stadtplan zurate zu ziehen. »Wir müssen zur Montée des Accoules, unmittelbar vor der Kathedrale. Ach, wie interessant. Wissen Sie, wer unser unmittelbarer Nachbar ist? Reboul.« Sie deutete auf die Karte, und Sam sah, dass das Palais du Pharo nur einen Steinwurf vom Hotel entfernt war.
Die Atmosphäre veränderte sich, sobald sie die windigen unbebauten Flächen verließen, die an den Hafen grenzten.
Die Sonne verschwand. Die Montée entpuppte sich als Treppenstraße, steil, düster und eng, kaum breiter als ein Pkw. Gebäude, denen bei Sonnenschein ein gewisser morbider Charme zu eigen gewesen wäre, wirkten mit einem Mal trostlos. Die einzigen Anzeichen von Leben waren würzige Dunstschwaden und der schrille Diskant nordafrikanischer Popmusik, die aus den geöffneten Fenstern der Häuser drangen, an denen sie vorüberkamen. Sie bogen nach links in eine schmale Gasse ein.
»Die Bar müsste sich am Ende dieser Straße befinden«, sagte Sophie. »An einem kleinen Platz ohne Namen. Ich habe keine Ahnung, wie Philippe solche versteckten Lokale findet.«
»Die louches, die leicht zwielichtigen Gestalten , kennen immer die besten Adressen. Aber fairerweise muss man ihm zugestehen, dass er uns etwas bieten wollte, was typisch für Marseille ist.«
Diese Bemerkung veranlasste Sophie, einen Schmollmund mit Geräuscheffekten zu ziehen und als Zeichen der Verachtung einen Luftschwall zwischen den geschürzten Lippen hervorzustoßen. Es war eine durch und durch französische Darbietung, die Sam etliche Male ohne großen Erfolg nachzuahmen versucht hatte. Seine Schmollmund-Variante klang eher nach Flatulenz als nach Verachtung. Er gelangte zu der Schlussfolgerung, dass man dazu gallische Lippen brauchte.
Sie gingen bis zum Ende der Gasse und traten auf einen winzigen Platz hinaus. In der Mitte erhob sich eine kleine, wenngleich kämpferische Platane, der es gelungen war, trotz ihres eng anliegenden Betonkragens zu überleben. Und in einer Ecke, die Fenster mit inspirierenden Fußball-Slogans in weißer Farbe bedeckt – wobei ALLEZ LES BLEUS! Und DROIT AU BUT! zu dominieren schienen -, befand sich die Bar. Verblasste Buchstaben über dem Eingang zeigten an,
dass sie den Namen Le Sporting trug. Draußen parkte ein staubiger schwarzer Peugeot-Motorroller.
Sam stieß die Tür auf, und die dichten Tabakrauchschwaden erzitterten im Strom der Frischluft. Die Unterhaltung verstummte auf einen Schlag. Eine Gruppe von Männern mit zerklüfteten Gesichtszügen blickte von ihrem Kartenspiel auf. Zwei weitere Männer, die an der Theke Platz genommen hatten, drehten sich um und starrten die Neuankömmlinge an. Nur einer im Raum lächelte, ein dunkelhaariger Typ mit ausladender Statur, der an einem Tisch in der Ecke saß. Der Hüne stand auf, breitete die Arme aus und stürzte sich auf Sophie. »Ah, ma petite cousine«, rief er und küsste sie voller Begeisterung zwei Mal auf jede Wange. »Enfin à Marseille. Bienvenue, bienvenue.« Er wandte seine Aufmerksamkeit Sam zu und wechselte die Sprache. »Und Sie müssen der Amerikaner sein.« Er ergriff Sams Hand und schüttelte sie überschwänglich. »Willkommen in Marseille. Was möchtet ihr trinken?« Er rückte näher. »Unter uns, ich würde den Hauswein meiden, wenn ihr den heutigen Tag überleben wollt«, fügte er mit leiser Stimme hinzu. »Wie wäre es mit Pastis? Oder Bier? Hier gibt es auch einen ausgezeichneten korsischen Whisky. Setzt euch, setzt euch.«
Sam blickte sich um. Die Inneneinrichtung hatte ihre besten Zeiten schon hinter sich. Die schachbrettartig verlegten Bodenfliesen waren zum überwiegenden Teil schon so abgenutzt, dass der nackte Beton durchkam. Die Decke, ehemals weiß, hatte vom Nikotin eine dunkelbraune Färbung angenommen. Die Tische und Stühle hatten mit dem Alter Patina angesetzt. Doch vielleicht besaßen sie verborgene
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