Ein diplomatischer Zwischenfall
Porträtfoto hinab. Zeitungsreproduktionen waren nie besonders gut, und diese Aufnahme war entschieden verschmiert – aber was für ein Gesicht! Mrs Clayton, die Gattin des Ermord e ten…
Einer plötzlichen Eingebung folgend, schob er Miss Lemon die Zeitung hin.
»Sehen Sie mal«, gebot er. »Betrachten Sie einmal dieses Gesicht.«
Miss Lemon leistete gehorsam und emotionslos seiner Aufforderung Folge.
»Was halten Sie von ihr, Miss Lemon? Das ist Mrs Clayton.«
Miss Lemon warf noch einen zweiten gleichgültigen Blick auf das Bild und bemerkte dann:
»Sie ähnelt ein wenig der Frau unseres Bankdirektors in Croydon Heath.«
»Interessant«, meinte Poirot. »Seien Sie doch so gut und erzählen Sie mir etwas über diese Bankdirektorsfrau.«
»Nun, es ist eigentlich keine sehr angenehme Geschichte, Monsieur Poirot.«
»Das habe ich mir bereits gedacht. Fahren Sie bitte fort.«
»Es gab viel Gerede – über Mrs Adams und einen jungen Künstler. Dann erschoss Mr Adams sich. Aber Mrs Adams wollte den anderen Mann nicht heiraten, und er versuchte, sich zu vergiften, wurde jedoch gerettet. Schließlich heiratete Mrs Adams einen jungen Rechtsanwalt. Es folgten weitere Unannehmlichkeiten, glaube ich. Aber um die Zeit hatten wir Croydon Heath bereits verlassen, und ich habe nicht mehr viel darüber gehört.«
Hercule Poirot nickte ernst. »Sie war wohl sehr schön, ja?«
»Nun, schön im eigentlichen Sinne wohl nicht. Aber sie schien etwas an sich zu haben…«
»Ganz richtig. Was ist dieses gewisse Etwas, das sie besitzen – die Sirenen dieser Welt? Frauen wie die schöne Helena, Kleopatra…?«
Miss Lemon schob energisch einen Bogen Papier in ihre Maschine.
»Wirklich, Monsieur Poirot, darüber habe ich nie nachgedacht. Es erscheint mir alles sehr töricht. Wenn die Menschen sich nur an ihre Arbeit halten und über solche Dinge nicht nachdenken wollten, wäre alles viel besser.«
Nachdem Miss Lemon menschliche Schwächen und Leidenschaften auf diese Weise kategorisch abgetan hatte, ließ sie ihre Finger leicht auf den Maschinentasten ruhen, voller Ungeduld, endlich mit ihrer Arbeit beginnen zu können.
»Das ist Ihre Ansicht«, meinte Poirot. »Und in diesem Augenblick ist Ihr ganzes Verlangen darauf gerichtet, mit Ihrer Arbeit fortfahren zu dürfen. Aber Ihre Arbeit, Miss Lemon, besteht nicht nur darin, meine Korrespondenz zu erledigen, meine Briefe abzulegen und meine Telefongespräche entgegenzunehmen. Alle diese Dinge erledigen Sie in bewundernswerter Weise. Ich aber habe nicht nur mit Dokumenten zu tun, sondern auch mit menschlichen Wesen. Und dabei brauche ich ebenfalls Unterstützung.«
»Gewiss, Monsieur Poirot«, lautete die geduldige Erwiderung.
»Dieser Fall interessiert mich, und es würde mich freuen, wenn Sie die Berichte darüber in allen Morgenzeitungen und auch die späteren Berichte in den Abendzeitungen durchläsen und mir ein Resümee des Tatsachenbestandes anfertigten.«
»Sehr wohl, Monsieur Poirot.«
Poirot zog sich in sein Wohnzimmer zurück.
Zu gegebener Zeit erschien Miss Lemon bei ihm mit einem getippten Bericht.
»Ich habe hier die gewünschten Informationen, Monsieur Poirot. Allerdings fürchte ich, dass sie nicht als besonders zuverlässig anzusehen sind. Die Berichte der verschiedenen Zeitungen weichen beträchtlich voneinander ab. Ich möchte den angegebenen Tatsachen nicht mehr als sechzig Prozent Genauigkeit zubilligen.«
»Das ist wahrscheinlich eine konservative Schätzung«, murmelte Poirot. »Vielen Dank, Miss Lemon, für die Mühe, die Sie sich gemacht haben.«
Der Fall selbst war sensationell, aber ziemlich klar. Major Rich, ein wohlhabender Junggeselle, hatte einige seiner Freunde zu einer Abendgesellschaft in seine Wohnung geladen. Diese Freunde waren Mr und Mrs Clayton, Mr und Mrs Spence und Commander McLaren. Commander McLaren war mit Rich und den Claytons schon sehr lange befreundet. Mr und Mrs Spence, ein jüngeres Ehepaar, waren ziemlich neue Bekannte. Arnold Clayton arbeitete im Schatzamt. Jeremy Spence war ein jüngerer Beamter der Zivilverwaltung. Major Rich war achtundvierzig, Arnold Clayton fünfundfünfzig, Commander McLaren sechsundvierzig und Jeremy Spence siebenunddreißig. Mrs Clayton war, wie es hieß, »einige Jahre jünger als ihr Gatte«. Eine dieser Personen war nicht in der Lage, an der Abendgesellschaft teilzunehmen. Mr Clayton wurde im letzten Augenblick wegen dringender Geschäfte nach Schottland gerufen, und es wurde angenommen,
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