Ein diplomatischer Zwischenfall
sagen? Ich verstehe nicht, was das damit zu tun hat?«
»Ich habe nur eine kleine Idee verfolgt«, sagte Poirot, »eine kleine, vielleicht nicht sehr interessante, aber originelle Idee über die Auswirkungen einer langen Dienstzeit.«
Lady Astwell starrte ihn immer noch verständnislos an.
»Sie sind doch wirklich sehr klug, nicht wahr?«, fragte sie in etwas zweifelndem Ton. »Alle sagen es ja.«
Hercule Poirot musste lachen.
»Vielleicht werden auch Sie, Madame, mir eines Tages dieses Kompliment machen. Befassen wir uns jedoch ein wenig mit dem Motiv für die Tat. Erzählen Sie mir zunächst einmal etwas über Ihren Haushalt. Wer war zum Beispiel an jenem tragischen Tage im Hause?«
»Charles natürlich.«
»Wenn ich nicht irre, ist er nicht Ihr Neffe, sondern der Neffe Ihres Gatten, nicht wahr?«
»Ja, Charles ist der einzige Sohn von Sir Reubens Schwester. Sie heiratete einen verhältnismäßig reichen Mann. Aber dann kam einer jener Börsenkräche – wie sie ja nun mal in der City passieren – und ihr Vermögen war weg. Die Eltern starben, und Charles kam zu uns. Er war damals dreiundzwanzig und wollte Rechtsanwalt werden. Aber Reuben nahm ihn zu sich ins Büro.«
»War Monsieur Charles sehr fleißig?«
»Sie haben den Nagel auf den Kopf getroffen! Sie sind aber schnell von Begriff, das macht mir Spaß«, sagte Lady Astwell und nickte wohlgefällig mit dem Kopf. »Nein, Charles war nicht fleißig. Das war ja gerade der Kummer. Er hatte ständig Krach mit seinem Onkel wegen irgendeines Kuddelmuddels, den er im Geschäft angerichtet hatte. Es war allerdings auch nicht leicht, mit Sir Reuben auszukommen. Wie oft habe ich ihn daran erinnern müssen, dass er auch mal jung war. In seiner Jugend war er nämlich anders, Monsieur Poirot.«
Lady Astwell seufzte in seliger Erinnerung.
»Die Menschen ändern sich, Mylady«, sagte Poirot. »Das ist nun mal der Lauf der Dinge.«
»Immerhin«, sagte Lady Astwell, »war er mir gegenüber eigentlich nie richtig grob. Oder wenn es mal vorkam, hat es ihm hinterher stets leidgetan. Armer alter Reuben!«
»Er war also etwas schwierig, wie?«, fragte Poirot.
»Ich konnte immer mit ihm fertigwerden«, erwiderte Lady Astwell mit der Miene eines erfolgreichen Löwenbändigers. »Aber ziemlich unangenehm war’s manchmal, wenn er mit den Dienstboten aneinandergeriet. Man muss sie zu nehmen wissen. Reuben verstand das nicht.«
»Wem hat Sir Reuben sein Vermögen hinterlassen, Lady Astwell?«
»Charles und mir zu gleichen Teilen«, erwiderte Lady Astwell prompt. »Die Rechtsanwälte drücken sich zwar nicht so einfach aus, aber das ist der Sinn der Sache.«
Poirot nickte.
»So, so«, murmelte er. »Nun, Lady Astwell, möchte ich, dass Sie mir den Haushalt beschreiben. Sie selbst waren also da, Sir Reubens Neffe Charles Leverson, der Sekretär Mr Owen Trefusis und Miss Lily Margrave. Vielleicht können Sie mir etwas über diese junge Dame sagen.«
»Über Lily wollen Sie etwas hören?«
»Ja, ist sie schon lange bei Ihnen?«
»Ungefähr ein Jahr. Wissen Sie, ich habe ja eine ganze Reihe von Gesellschafterinnen gehabt, aber irgendwie sind sie mir alle auf die Nerven gegangen. Lily war anders. Taktvoll und vernünftig. Außerdem sieht sie sehr nett aus. Ich habe gern hübsche Menschen um mich herum, Monsieur Poirot. Ich bin eine komische Person. Bei mir ist es Abneigung oder Zuneigung auf den ersten Blick. Sobald ich das Mädchen sah, sagte ich: Die gefällt mir.«
»Haben Sie sie durch Vermittlung von Freunden bekommen?«
»Ich glaube, auf eine Anzeige hin. Ja, das stimmt.«
»Ist Ihnen etwas über ihre Familie bekannt? Wissen Sie, woher sie kommt?«
»Soviel ich weiß, sind ihre Eltern in Indien. Viel weiß ich allerdings nicht von ihnen. Aber man kann auf den ersten Blick sehen, dass sie eine Dame ist, nicht wahr, Monsieur Poirot?«
»O ja, durchaus.«
»Ich selbst bin keine Dame«, fuhr Lady Astwell fort. »Das weiß ich, und die Diener wissen es. Aber ich bin nicht missgünstig, sondern habe die größte Achtung vor einer wirklichen Dame, wenn sie mir begegnet. Und niemand hätte netter zu mir sein können als Lily. Ich betrachte das Mädchen wirklich fast wie eine Tochter, Monsieur Poirot.«
»Hat Sir Reuben dieses Gefühl geteilt?«, fragte er.
Obwohl Poirot eingehend die Nippsachen vor sich auf dem Tisch zu betrachten schien, entging ihm nicht die kleine Pause vor Lady Astwells Antwort.
»Bei einem Mann ist das wieder anders. Natürlich sind sie –
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