Ein diskreter Held
aus. »Denn der Junge hat etwas Außergewöhnliches, etwas, was ihn von den anderen unterscheidet. Ich meine, nicht nur, dass er sehr intelligent ist, und das ist er sicher, keine Frage, Rigoberto, und ich sage es nicht, um dir zu schmeicheln. Aber darüber hinaus hat der Junge etwas sehr Besonderes, sehr Eigenes, eine Sensibilität, die, denke ich, die allermeisten von uns nicht haben. Ihr habt richtig gehört. Ich weiß selber nicht, ob es einen freuen oder ängstigen soll. Und ich schließe nicht aus, dass er mir diesen Eindruck nur vermitteln wollte und es geschafft hat, wie ein vollendeter Schauspieler. Ich habe sehr gezögert, es euch zu sagen. Aber ich glaube, es ist besser so.«
»Können wir zur Sache kommen, Pepín?« Rigoberto wurde immer ungeduldiger. »Hör auf, das Ganze zu verschleiern. Ich meine, hör auf mit dem Quatsch und kommen wir zum Kern des Problems. Sprich es aus, verdammt noch mal, und zieh nicht den Arsch vor der Spritze weg.«
»Was soll diese Ausdrucksweise, Rigoberto«, tadelte ihn Lucrecia. »Wir machen uns einfach große Sorgen, Pepín. Entschuldige. Ich glaube, es ist das erste Mal, dass ich deinen Freund Öhrchen fluchen höre wie einen Fuhrmann.«
»Entschuldige bitte, Pepín, aber sag es endlich«, ließ Rigoberto nicht locker. »Gibt es den allgegenwärtigen Edilberto Torres? Erscheint er ihm im Kino, auf der Toilette einer Diskothek, auf dem Sportplatz der Schule? Kann es sein, dass dieser Unsinn stimmt?«
Pater O’Donovan schwitzte nun wieder, heftig, und jetzt nicht wegen des Radfahrens, dachte Rigoberto, sondern wegen der Anspannung, in dieser Sache ein Urteil sprechen zu müssen. Nur was zum Kuckuck sollte das? Was war los mit ihm?
»Sagen wir so, Rigoberto«, sagte der Priester, nach jedem Wort mit spitzen Fingern greifend, als wäre es voller Dornen: »Fonchito glaubt, dass er ihn sieht und mit ihm spricht. Das scheint mir unbestreitbar. Nun denn, ich glaube, dass er fest daran glaubt, so wie er glaubt, dass er dich nicht anlügt, wenn er dir sagt, dass er ihn gesehen und mit ihm gesprochen hat. Auch wenn dieses Erscheinen und Verschwinden einem absurd vorkommt oder auch ist. Versteht ihr, was ich euch zu sagen versuche?«
Rigoberto und Lucrecia schauten einander an, und dann schauten sie schweigend zu Pater O’Donovan. Der Priester schien jetzt so verwirrt wie sie. Er war traurig geworden, und ihm war anzusehen, dass auch er mit seiner Antwort nicht zufrieden war. Aber genauso offensichtlich war, dass er keine andere hatte, dass er es nicht besser erklären konnte.
»Klar verstehe ich, aber was du da sagst, bedeutet nichts, Pepín«, grummelte Rigoberto. »Dass Fonchito nicht versucht, uns etwas vorzumachen, davon waren wir ausgegangen. Dass er sich vielmehr selbst etwas vormacht, dass er sich etwas einbildet. Ist es das, was du denkst?«
»Ich weiß, wie enttäuscht ihr jetzt seid, ihr habt etwas Eindeutigeres, Handfesteres erwartet«, fuhr Pater O’Donovan fort. »Tut mir leid, aber konkreter kann ich nicht werden, Öhrchen. Ich kann es nicht. Mehr Licht konnte ich in die Sache nicht bringen. Der Junge lügt nicht. Er glaubt, dass er diesen Herrn sieht, und vielleicht, wer weiß, sieht er ihn tatsächlich. Nur er und die anderen nicht. Mehr kann ich nicht sagen. Esist bloß eine Vermutung. Aber noch mal, ich will nicht ausschließen, dass dein Sohn mich an der Nase herumgeführt hat. Mit anderen Worten, dass er schlauer und geschickter ist als ich. Vielleicht kommt er auf dich, Öhrchen. Weißt du noch, wie Pater Lagnier dich in der Schule einen manischen Lügner genannt hat?«
»Dann hast du kein Licht in die Sache gebracht, sondern nur noch mehr Dunkel, Pepín«, murmelte Rigoberto.
»Sind es vielleicht Visionen? Halluzinationen?«, versuchte Lucrecia es auf den Punkt zu bringen.
»So könnte man es nennen«, sagte der Priester, »aber nicht, wenn ihr dabei an eine Geistesstörung denkt, eine Krankheit. Mein Eindruck ist, dass Fonchito seinen Verstand und seine Nerven völlig im Griff hat. Er ist ein ausgeglichener Junge, unterscheidet sehr deutlich das Wirkliche vom Fantastischen. Dass er im Kopf sehr klar ist, dafür lege ich meine Hand ins Feuer. Mit anderen Worten, das ist keine Sache für einen Psychiater.«
»Ich nehme an, du sprichst jetzt nicht von Wundern«, sagte Rigoberto so gereizt wie spöttisch. »Denn wenn Fonchito der Einzige ist, der Edilberto Torres sieht und mit ihm spricht, dann wären das wundertätige Kräfte. Oder sind wir so tief
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