Ein diskreter Held
gezeigt?«, stichelte Rigoberto. »Du hast doch nicht in seinen Sachen gewühlt.«
»Nein, er lag offen auf seinem Tisch, ich war neugierig. Deshalb habe ich ihn gelesen.«
»Keine gute Idee, ohne seine Erlaubnis und hinter seinem Rücken.« Rigoberto tat vorwurfsvoll.
»Es hat mich nicht losgelassen«, fuhr sie fort, ohne etwas auf ihn zu geben. »Er ist halb philosophisch, halb religiös. Über die Freiheit und das Böse.«
»Hast du ihn zur Hand?«, fragte Rigoberto interessiert. »Ich würde auch gern einen Blick hineinwerfen.«
»Ein Exemplar für den Herrn Vorwitz liegt auf dem Schreibtisch«, sagte Lucrecia. »Ich habe eine Kopie gemacht.«
Rigoberto schloss sich inmitten seiner Bücher, CDs und Bilder ein, um Fonchitos Aufsatz zu lesen. »Die Freiheit und das Böse« war recht kurz. Es ging darum, dass Gott, als er den Menschen schuf, wahrscheinlich keine Art Maschine im Sinn hatte, programmiert von der Geburt bis zum Tod, wie es bei Pflanzen und Tieren der Fall war, sondern ein Wesen mit einem freien Willen und in der Lage, über sein Handeln zu bestimmen. So kam die Freiheit in die Welt. Aber diese Fähigkeit erlaubte es dem Menschen, das Böse zu wählen, es vielleicht auch zu erschaffen, indem er Dinge tat, die nicht nur all dem widersprachen, was aus Gott hervorging, sondern des Teufels Daseinsgrund waren, das Fundament seiner Existenz. So war das Böse also ein Kind der Freiheit, etwas Menschengeschaffenes. Was nicht bedeutete, dass die Freiheit an sich schlecht wäre, nein, sie war ein Geschenk, das große wissenschaftliche und technische Entdeckungen ermöglicht hatte, gesellschaftlichen Fortschritt, die Abschaffung von Sklaverei und Kolonialismus, die Menschenrechte und so weiter. Aber sie war auch der Ursprung von Grausamkeiten und schrecklichem Leid, das niemals aufhörte und den Fortschritt wie ein Schatten begleitete.
Rigoberto war beunruhigt. Alle diese Gedanken, dachte er, standen irgendwie in Verbindung mit den Erscheinungen des Edilberto Torres und seinen tränenreichen Auftritten. Oder war der Aufsatz eine Folge von Fonchitos Gespräch mit Pater O’Donovan? Hatte sein Sohn Pepín vielleicht wiedergesehen?In dem Moment kam Justiniana aufgeregt ins Arbeitszimmer gestürzt. Der »Frischvermählte« sei am Telefon.
»So sollte ich ihn melden, hat er gesagt, Don Rigoberto«, erklärte das Mädchen. »›Sagen Sie ihm, der Frischvermählte ist am Apparat, Justiniana‹«
»Ismael!« Rigoberto sprang auf und griff zum Hörer. »Hallo? Hallo? Bist du es? Bist du in Lima? Seit wann?«
»Oh nein, noch nicht, Rigoberto«, sagte eine gickelnde Stimme, die er als die seines Chefs erkannte. »Natürlich sage ich dir nicht, von wo aus ich anrufe, ein Vögelchen hat mir nämlich gezwitschert, dass dein Telefon abgehört wird, von wem, das wissen wir beide. Von einem wunderschönen Ort aus jedenfalls, du kannst also vor Neid erblassen.«
Er lachte, ein überglückliches Lachen, und Rigoberto kam der schreckliche Verdacht, dass sein Exchef und Freund vielleicht tatsächlich nicht mehr alle auf der Reihe hatte und nur noch debil war. Ob die Hyänen in der Lage wären, eine dieser Spionagefirmen mit dem Anzapfen seines Telefons zu beauftragen? Unmöglich, ihre grauen Zellen reichten dafür nicht aus. Oder vielleicht doch?
»Na prima, was willst du mehr«, antwortete er. »Schön für dich, Ismael. Ich sehe, dem Flitterwöchner geht es prächtig, und du hast noch Puste übrig. Oder zumindest lebst du noch. Freut mich, mein Lieber.«
»Ich bin in Topform, Rigoberto. Und eins kann ich dir sagen, nie habe ich mich besser gefühlt und auch nicht glücklicher als in diesen Tagen. Du hörst es ja.«
»Großartig, ja«, stimmte Rigoberto ein. »Also, nicht dass ich dich mit schlechten Neuigkeiten behelligen möchte, erst recht nicht am Telefon. Aber ich nehme an, du hast mitbekommen, was du hier angerichtet hast. Was auf uns einprasselt.«
»Claudio Arnillas erzählt mir alles haarklein und schickt mir die Ausschnitte aus der Presse. Es amüsiert mich köstlich, wenn ich lese, dass ich entführt wurde und unter Altersdemenz leide. Ihr beide, du und Narciso, wart Komplizen bei meiner Entführung, nicht wahr?«
Wieder lachte er schallend, lange, laut, sarkastisch.
»Schön, dass du es mit so viel Humor nimmst«, brummte Rigoberto. »Narciso und ich amüsieren uns nicht ganz so, das kannst du dir denken. Die Brüderchen machen deinen Chauffeur noch verrückt mit ihren Intrigen und Drohungen. Und uns
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