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Ein Drama in Livland

Ein Drama in Livland

Titel: Ein Drama in Livland Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jules Verne
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beliebten Lehrers, zu glauben, daß schon ein Geldmangel genügt hätte, ihn zum Mörder zu machen?«
    Diese Einwendungen verfehlten nicht, einen tiefen Eindruck auf den Gouverneur zu machen, der sich ohnehin gegen die Mutmaßungen sträubte, die der Major Verder und viele andere schon als Gewißheiten betrachteten. So begnügte er sich denn, dem Oberst Raguenos zu antworten:
    »Lassen wir der Untersuchung ihren Lauf. Vielleicht kommen noch andere Dinge an den Tag und geben andere Zeugenaussagen der Beschuldigung eine zuverlässigere Unterlage. Dem mit der Aufklärung der Sache betrauten Richter Kerstorf können wir ja vollständig Vertrauen schenken. Ein unabhängiger, durchaus ehrenhafter Beamter, gehorcht er nur der Stimme seines Gewissens und ist unzugänglich für jede, auch für jede politisch gefärbte Beeinflussung. Die Verhaftung des Lehrers konnte er ohne eine Beratung mit mir nicht anordnen… er hat den Mann auf freiem Fuß gelassen, und daran hat er recht getan. Sollten sich neue Anhaltspunkte ergeben und es rätlich erscheinen lassen, so würde ich der erste sein, Nicolef in der Feste internieren zu lassen.«
    In der Stadt entstand inzwischen eine gewisse Aufregung. Die Mehrzahl der Einwohner – das ließ sich nicht bestreiten – glaubte, daß der Privatlehrer nach dem mit ihm vorgenommenen Verhöre in Haft behalten werden würde, die einen, die Zugehörigen der oberen Gesellschaftsklassen, weil sie ihn wirklich für schuldig hielten, die anderen, weil es die Sache mindestens erforderte, daß man sich seiner Person versicherte.
    Es erregte deshalb die höchste, mit scharfen Protesten gemischte Verwunderung, als man Dimitri Nicolef frei nach seiner Wohnung gehen sah.
    Die schreckliche Neuigkeit war jetzt aber auch bis in sein Haus gedrungen. Ilka wußte, daß ihr Vater eines Kriminalverbrechens wegen angeklagt war. Vor wenigen Stunden hatte sie ihren eben eingetroffenen Bruder mit herzlicher Umarmung begrüßt. Die Entrüstung des jungen Mannes war ganz unbeschreiblich. Er hatte seiner Schwester auch den Auftritt zwischen den Studierenden der Universität Dorpat geschildert.
    »Unser Vater ist unschuldig, rief er, und mit Karl Johausen werde ich schon noch Abrechnung halten!
    – Ja, er ist ohne Schuld, antwortete das junge Mädchen, dabei stolz den Kopf aufrichtend, und wer, selbst von seinen Feinden, könnte es wagen, ihn einer solchen Schandtat zu zeihen?«
    Es braucht wohl kaum betont zu werden, daß in der vertrauten Umgebung Dimitri Nicolefs dieselbe Überzeugung herrschte, vor allem bei dem Doktor Hamine und dem Konsul Delaporte, die auf die Nachricht, daß der Lehrer vor Gericht gefordert worden sei, eiligst in dessen Wohnung erschienen waren.
    Ihre Anwesenheit, ihre ermutigende Zusprache und ihre Versicherungen waren dem Bruder und der Schwester ein lindernder Balsam in deren Leide doch hatte es den ehrlichen Hausfreunden Mühe genug gekostet, die beiden Kinder des Beschuldigten von einer Aufsuchung ihres Vaters im Amtszimmer des Richters abzuhalten.
    »Nein, nein, mahnte der Doktor Hamine, bleibt nur mit uns hier. Besser, wir warten alles ruhig ab. Nicolef wird ja völlig gerechtfertigt zurückkehren.
    – O, was nützt es denn, rief das junge Mädchen, sein Leben lang ein ehrenwerter Mann gewesen zu sein, wenn man dennoch so abscheulichen Beschuldigungen ausgesetzt bleibt?
    – Das nützt einem dazu, sich zu verteidigen! stieß Jean hervor.
    – Ja, junger Mann, antwortete der Arzt, und selbst wenn Dimitri sich schuldig bekennen sollte, würde ich es nicht glauben und nur erklären, daß er von Sinnen sei.«
    In dieser Geistesverfassung fand also Dimitri Nicolef seine Familie, den Arzt und Herrn Delaporte und auch so einige Bekannte wieder, die sich in seinem Hause eingefunden hatten. Draußen aber waren die Gemüter der Menge so erhitzt, daß er unterwegs hatte vielfache gegen ihn ausgestoßene Verwünschungen hören müssen.
    Der Bruder und die Schwester warfen sich ihm in die Arme. Er küßte die beiden mit größter Herzlichkeit. Jetzt erfuhr er auch, wie Jean in Dorpat beleidigt worden war, welch kränkende, abscheuliche Worte ihm in Gegenwart seiner Kameraden der junge Johausen zugerufen hatte. – Jean als der Sohn eines Mörders gebrandmarkt!
    Der Doktor Hamine, der Konsul und die übrigen drückten Nicolef warm die Hand. Sie legten durch ihre Worte, ihre Freundschaftsbezeugungen entschieden Widerspruch gegen die unerhörte Anklage ein. Niemals hatten sie an seiner Schuldlosigkeit

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