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Ein Drama in Livland

Ein Drama in Livland

Titel: Ein Drama in Livland Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jules Verne
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seltsam.«
    Dann setzte er, so als ob ihn die Sache gar nichts anginge, noch hinzu:
    »Angenommen aber, es wäre ausgeschlossen, nach den gefundenen Spuren zu glauben, daß ein von außen eingedrungener Übeltäter das Verbrechen begangen hätte, so beweisen sie doch keineswegs, daß es nicht erst nach meinem Weggange ausgeführt worden wäre.
    – Sie sprechen da eine Beschuldigung des Gastwirtes aus, gegen den die Untersuchung an Ort und Stelle doch keinerlei Verdacht ergeben hat.
    – Ich beschuldige niemand, Herr Richter, entgegnete Dimitri Nicolef eher noch etwas stolzer, ich habe aber doch wohl das Recht auszusprechen, daß meine Person wohl die letzte hätte sein dürfen, die die Gerichte mit einem Verdachte wegen dieser Schandtat belasteten!
    – Der Mord ist auch noch mit einem Diebstahl verknüpft, sagte da der Major Verder, und die Rubel, die der Getötete für Rechnung der Herren Johausen in Reval abliefern sollte, sind spurlos verschwunden.
    – Ja, was hat das aber mit mir zu tun?«
    Der Richter beeilte sich, das Zwiegespräch zwischen dem Lehrer und dem Major Verder abzuschneiden.
    »Sie bleiben also dabei, Dimitri Nicolef, uns weder den Grund Ihrer Reise, noch den Grund dafür mitzuteilen, daß Sie das Gasthaus schon um vier Uhr morgens verließen, und ebenso verweigern Sie die Aussage darüber, wohin Sie von da aus gingen?
    – Dabei bleib’ ich!
    – Nun gut; so bin ich berechtigt, Ihnen von Amts wegen folgendes zu erklären: Es konnte Ihnen nicht unbekannt geblieben sein, daß der Bankbedienstete eine recht ansehnliche Summe bei sich führte. Nach dem Unfalle mit dem Postwagen ist Ihnen, als Sie Poch nach dem Gasthause ‘Zum umgebrochenen Kreuze führten, der Gedanke gekommen, das Geld zu rauben. Als der Augenblick Ihnen dazu günstig erschien, sind Sie durch das Fenster Ihres Zimmer hinaus-und durch das des Pochschen Zimmers eingestiegen… dann haben Sie den Schlafenden ermordet, um ihn bestehlen zu können, und wenn Sie den Kabak schon um vier Uhr früh verließen, geschah es, um den geraubten Schatz zu verstecken, wo…
    – Wo wir ihn schon noch finden werden, fiel der Major ein.
    – Also zum letzten Male, fuhr der Richter fort, wollen Sie uns mitteilen, wohin Sie sich von jenem Gasthause aus gewendet haben?
    – Zum letzten Male: Nein! antwortete der Privatlehrer. Verhaften Sie mich, wenn Sie wollen…
    – Nein, Herr Nicolef, schloß der Beamte zum größten Erstaunen des Majors Verder. Es liegen zwar sehr gewichtige Verdachtsgründe gegen Sie vor, doch den Befehl, einen Mann in Ihrer Stellung und von lebenslang erprobter Ehrenhaftigkeit zu verhaften, den unterzeichne ich nicht… wenigstens heute nicht. Sie sind frei, doch halten Sie sich jederzeit dem Gerichte zur Verfügung.«
Elftes Kapitel.
Vor der Volksmenge.
    Nach diesem Verhör erwartete der Major, daß die Verhaftung Nicolefs sofort angeordnet werden würde, und viele andere glaubten dasselbe: der Privatlehrer hatte es ja abgeschlagen, sich über die Veranlassung zu seiner Reise auszusprechen. Für seine Eile, den Kabak schon am Morgen um vier Uhr zu verlassen, hatte er keinen annehmbaren Beweggrund angegeben und nicht einmal sagen wollen, wo er sich in den drei Tagen vor seiner Rückkehr nach Riga aufgehalten hätte. Natürlich konnte diese Verschlossenheit den auf ihm lastenden Verdacht nur erschweren. Warum war Dimitri Nicolef aber unter solchen Verhältnissen nicht gleich verhaftet worden? Warum durfte er als freier Mann nach seiner Wohnung zurückkehren, statt in eine Zelle der Festung abgeführt zu werden? Gewiß mußte er sich der Behörde zur Verfügung halten, wie leicht konnte er aber von der vorläufigen Freiheit Gebrauch machen zu entfliehen, wo er sich in den Vorfall im »Umgebrochenen Kreuze« so tief verstrickt sah.
    In Rußland, wie anderswo, ist an der Unabhängigkeit der Ziviljustiz nicht zu deuteln. Auch dort wahrt man sie mit lobenswertem Eifer. Spielt freilich das politische Element in irgend einen Kriminalfall hinein, so macht sich bald eine Einwirkung der obersten Behörden bemerkbar. Das traf nun bei Dimitri Nicolef zu, der eines schrecklichen Verbrechens angeklagt war, während die slawische Partei ihn gerade auf den Schild erhoben hatte. Das war auch der Grund, warum der Gouverneur der baltischen Provinzen, der General Gorko, sich nicht gleich hatte für eine Verhaftung aussprechen wollen. Diese wollte er jedenfalls nicht anordnen, solange gegen die Schuld des Lehrers nur noch der leiseste Zweifel übrig

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