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Ein Drama in Livland

Ein Drama in Livland

Titel: Ein Drama in Livland Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jules Verne
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gekommen war, hatte Dimitri Nicolef gefragt, ob kein Brief für ihn eingetroffen wäre.
    Nein… der Briefträger hatte nur, wie jeden Abend, die Zeitung abgeliefert, die die Interessen der slawischen Partei vertrat.
    Am nächsten Morgen trat der Lehrer zur Zeit der ersten Austragung aus seinem Zimmer und wartete auf den Briefträger gleich an der Haustür. Zu dieser Zeit war die Vorstadt noch menschenleer und nur einige Polizisten gingen vor dem Hause hin und her.
    Ilka, die ihren Vater gehen gehört hatte, gesellte sich auf der Schwelle zu ihm.
    »Du wartest auf den Briefträger? fragte sie.
    – Ja, antwortete Nicolef. Er scheint mir heute morgen recht lange auszubleiben.
    – Nein, lieber Vater, ich versichere dir, daß es noch nicht zu spät ist. Hier ist es aber etwas kalt; solltest du nicht lieber wieder hineingehen?… Du erwartest wohl einen Brief?
    – Ja, mein Kind; es ist aber nutzlos, daß du auch hier bleibst. Geh’ nach deinem Zimmer.«
    Seiner etwas verlegenen Haltung nach zu urteilen, hätte man sagen mögen, daß ihm die Anwesenheit Ilkas störend war.
    In diesem Augenblick erschien der Briefträger. Er hatte kein Schreiben für den Lehrer, und dieser konnte eine schmerzliche Enttäuschung nicht verbergen.
    Am Abend und am nächsten Morgen zeigte sich Nicolef ebenso ungeduldig, als der Mann, ohne ihm etwas abzuliefern, an seinem Hause vorbeiging. Niemand hatte eine Ahnung, von wem Dimitri Nicolef einen Brief erwartete und welche Bedeutung dieser haben könne, ebensowenig, ob er überhaupt mit der so folgenschweren Reise in Verbindung stände. Nicolef selbst aber ließ darüber nichts verlauten.
    An diesem Morgen kamen der Doktor Hamine und der Konsul Delaporte schon um acht Uhr früh eiligst nach dem Hause des Lehrers und verlangten Jean und Ilka zu sprechen. Sie benachrichtigten diese, daß die Beerdigung Pochs am nämlichen Tage stattfinden werde. Das konnte Anlaß zu einer feindseligen Kundgebung gegen Nicolef geben, und deshalb empfahl es sich vielleicht, einige Vorsichtsmaßregeln zu treffen.
    Tatsächlich war ja von der gereizten Stimmung der Gebrüder Johausen alles zu befürchten, dafür sprach auch schon der Umstand, daß das Begräbnis des Ermordeten mit aller Feierlichkeit erfolgen sollte.
    Zugegeben, daß sie damit ihre Teilnahme an dem Schicksal eines treuen Dieners ausdrücken wollten, der dreißig Jahre lang in ihrem Hause tätig gewesen war; es lag aber zu sehr auf der Hand, daß sie diese Gelegenheit dazu benutzten, die öffentliche Meinung nur noch weiter zu erhitzen.
    Ohne Zweifel hätte der Gouverneur besser getan, den von den slawenfeindlichen Tagesblättern angekündigten prunkhaften Aufzug zu untersagen. Freilich lag es bei der jetzigen Stimmung der Menge auch nahe, daß ein Eingreifen der Behörden erst recht zum Widerstande gereizt hätte. So erschien es also noch als der beste Ausweg, die nötigen Maßregeln zu treffen, damit die Wohnung des Lehrers nicht zum Schauplatze persönlicher Tätlichkeiten würde.
    Solche waren aber desto mehr zu befürchten, weil sich der Leichenzug, um nach dem Friedhofe von Riga zu gelangen, durch die Vorstadt und unmittelbar an Nicolefs Wohnung vorüber bewegen mußte… ein bedauerliches Zusammentreffen von Umständen, das die Volksmenge gar so leicht zu Ausschreitungen verführen konnte.
    Unter diesen Verhältnissen riet der Doktor Hamine, Dimitri Nicolef von dem Begräbnisse überhaupt nichts zu sagen. Da er jetzt gewöhnlich in seiner Studierstube blieb und diese nur zur Stunde der Mahlzeiten verließ, konnte ihm damit manche Unruhe, auch manche Gefahr erspart bleiben.
    Das Frühstück, an dem Ilka den Doktor Hamine und Herrn Delaporte teilzunehmen veranlaßt hatte, verlief unter bedrückender Stille. Niemand erwähnte die Beerdigung, die für den Nachmittag angesetzt war. Wiederholt aber schreckten die Tischgenossen vor wütenden Ausrufen von draußen zusammen, mit Ausnahme des Lehrers selbst, der das Geschrei gar nicht zu hören schien. Nach dem Frühstück drückte er seinen Freunden die Hand und zog sich wieder in sein Arbeitszimmer zurück.
    Jean und Ilka, sowie der Arzt und der Konsul blieben im Wohnzimmer zurück. Eine peinliche Stunde des Wartens und auch ein peinliches Schweigen, das nur zuweilen von dem Lärm der Zusammenrottung und dem Geschrei der Menge unterbrochen wurde.
    Der Tumult nahm immer mehr zu, je mehr Leute aller Klassen der Vorstadt zuströmten und die Volksmenge vor dem Hause des Lehrers vergrößerten. Offenbar

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