Ein Earl mit Mut und Leidenschaft
nickte ihr zu und nutzte die Gelegenheit, eine weitere Runde Was Anne wohl gerade macht? zu spielen. Hoffentlich saß sie mit dem Rest der Familie zusammen, tat ihre Meinung kund zu Lavendel- versus Veilchenblau, Blumen, Spitzen und allem, was ein Familienfest ausmachte.
Sie hatte eine Familie verdient. Nach acht Jahren hatte sie es verdient, sich wieder zugehörig zu fühlen.
Daniel sah noch einmal auf die Uhr auf dem Kaminsims, versuchte diesmal, es etwas diskreter zu tun. Er war nun schon seit eineinhalb Stunden hier. Bestimmt wurde Lady Chervil allmählich unruhig. Niemand hockte eineinhalb Stunden in irgendeinem Salon herum, um auf jemanden zu warten. Die Höflichkeit verlangte, dass er ihr seine Visitenkarte überreichte und ging, das wussten sie beide.
Doch Daniel rührte sich nicht vom Fleck.
Lady Chervil lächelte verlegen. „Wirklich, ich habe nicht gedacht, dass Sir George so lange wegbleiben könnte. Ich kann mir nicht vorstellen, was ihn aufgehalten haben könnte.“
„Wohin ist er denn gegangen?“, erkundigte sich Daniel. Es war eine zudringliche Frage, doch nach eineinhalb Stunden leerem Gerede war ihm das egal.
„Ich glaube, er wollte einen Arzt konsultieren“, sagte Lady Chervil. „Wegen seiner Narbe.“ Sie blickte auf. „Oh, Sie haben ja gesagt, dass sie sich noch nicht vorgestellt wurden. Er hat...“ Mit trauriger Miene deutete sie auf ihr Gesicht. „Er hat eine Narbe. Es ist bei einem Reitunfall passiert, kurz vor unserer Hochzeit. Ich finde, dass er damit sehr verwegen aussieht, aber er versucht ständig, etwas dagegen zu unternehmen.“
Mit einem Schlag kehrte das ungute Gefühl in Daniels Magengrube zurück - heftiger als zuvor. „Er ging zu einem Arzt?“, fragte er.
„Nun, ich glaube schon“, erwiderte Lady Chervil. „Als er heute Morgen das Haus verließ, sagte er, er würde jemanden wegen seiner Narbe aufsuchen. Dass es sich dabei um einen Arzt handelt, ist nur eine Vermutung. Wen sollte er sonst aufsuchen?“ Anne.
Daniel stand so schnell auf, dass er die Teekanne umwarf, worauf sich der Bodensatz lauwarm über den Tisch ergoss.
„Lord Winstead?“, fragte Lady Chervil alarmiert. Sie erhob sich ebenfalls und lief Daniel nach, der bereits unterwegs zur Tür war. „Ist irgendetwas nicht in Ordnung?“
„Ich bitte um Verzeihung“, sagte er. Er hatte jetzt keine Zeit für Feinheiten. Er hatte neunzig verdammte Minuten hier vergeudet, und nur der Himmel wusste, was Chervil vorhatte. Oder bereits getan hatte.
„Kann ich Ihnen irgendwie helfen?“, fragte sie und lief ihm nach, während er mit großen Schritten zur Haustür eilte. „Vielleicht kann ich meinem Ehemann etwas ausrichten?“
Daniel drehte sich noch einmal um. „Ja“, sagte er und erkannte seine eigene Stimme nicht wieder. Die Angst ließ ihn schwankend werden, der Zorn gab ihm Kraft. „Sie dürfen ihm ausrichten, dass ich, wenn er meiner Verlobten auch nur ein Haar krümmt, persönlich dafür sorgen werde, dass ihm die Leber herausgerissen wird.“
Lady Chervil wurde kreidebleich.
„Haben Sie mich verstanden?“
Sie nickte unsicher.
Daniel fixierte sie mit starrem Blick. Sie war außer sich vor Angst, doch das war kein Vergleich zu dem, was Anne empfinden würde, wenn George Chervil sie in seine Gewalt gebracht hätte. Er tat noch einen Schritt zur Tür, hielt dann noch einmal inne. „Eins noch“, meinte er. „Wenn er heute Abend lebend nach Hause kommt, empfehle ich Ihnen, mit ihm über Ihre Zukunft
hier in England zu sprechen. Gut möglich, dass Sie sich auf einem anderen Kontinent wohler fühlen würden. Guten Tag, Lady Chervil.“
„Guten Tag“, sagte sie. Und fiel in Ohnmacht.
„Anne!“, schrie Daniel, als er in die Eingangshalle von Winstead House rannte. „Anne!“
Poole, der altgediente Butler von Winstead House, erschien wie aus dem Nichts.
„Wo ist Miss Wynter?“, fragte Daniel und rang nach Luft. Sein Landauer war im Verkehr stecken geblieben, worauf er die letzte Strecke gelaufen war. Wie ein Irrer war er durch die Straßen gewetzt, es war ein Wunder, dass er nicht irgendwo unter die Räder geraten war.
Seine Mutter kam aus dem Salon, gefolgt von Honoria und Marcus. „Daniel, was ist denn los?“
„Wo ist Miss Wynter?“, keuchte er immer noch schwer atmend.
„Sie ist ausgegangen“, sagte seine Mutter.
„Ausgegangen? Ausgegangen?“ Warum zum Teufel sollte sie das tun? Sie wusste doch, dass sie bis zu seiner Rückkehr in Winstead House bleiben
Weitere Kostenlose Bücher