Ein Earl mit Mut und Leidenschaft
kann mich doch auf Ihr Urteilsvermögen verlassen, nicht wahr?“ Lady Pleinsworth musterte sie prüfend.
„Natürlich, Mylady.“
„Es gibt Momente, in denen Frauen eine Sensibilität zeigen müssen, die den Männern abgeht. Ich glaube, ein solcher Moment ist nun gekommen.“
Sie blickte Anne an. Diesmal erwartete sie anscheinend eine Antwort. Und so sagte Anne: „Jawohl, Mylady“, und hoffte, das sei genug.
„Die Wahrheit ist doch die, Miss Wynter, dass ich sehr wenig über Sie weiß.“
Annes Augen weiteten sich.
„Ihre Zeugnisse sind ausgezeichnet, und natürlich war auch Ihr Benehmen über jeden Zweifel erhaben, seit Sie bei uns sind. Sie sind die beste Gouvernante, die ich je in meinen Diensten hatte.“ „Vielen Dank, Mylady.“
„Aber über Ihre Herkunft weiß ich überhaupt nichts. Ich weiß nicht, wer Ihr Vater war, oder Ihre Mutter, oder welche Verbindungen Sie haben. Sie sind sehr gut erzogen, so viel ist klar, aber darüber hinaus ...“ Sie hob die Hände. Und dann sah sie Anne direkt in die Augen. „Mein Neffe muss eine Frau von makellosem Ruf heiraten.“
„Das ist mir klar“, entgegnete Anne leise.
„Höchstwahrscheinlich wird sie dem Hochadel entstammen.“
Anne schluckte, versuchte ihre Gefühle so gut wie möglich zu verbergen.
„Streng genommen ist das natürlich nicht notwendig. Es ist durchaus möglich, dass er ein Mädchen wählt, das aus dem Landadel kommt. Aber dann müsste seine Braut wirklich einen blütenreinen Ruf haben.“ Lady Pleinsworth tat einen Schritt auf sie zu und legte den Kopf schief, als versuchte sie, in Annes Innerstes zu blicken. „Ich mag Sie, Miss Wynter“, sagte sie langsam, „aber ich kenne Sie nicht. Verstehen Sie?“
Anne nickte erneut.
Lady Pleinsworth trat zur Tür und legte eine Hand auf den Türknopf. „Ich habe den Verdacht“, meinte sie ruhig, „Sie wollen gar nicht, dass ich Sie kennenlerne.“
Und dann ging sie und ließ Anne allein zurück mit ihrer flackernden Kerze und ihren quälenden Gedanken.
Man konnte Lady Pleinsworths Worte wirklich nicht missverstehen. Sie hatte ihr geraten, sich von Lord Winstead fernzuhalten, beziehungsweise dafür zu sorgen, dass er sich von ihr fernhielt. Aber ein Hintertürchen hatte sie ihr offengelassen: Eventuell könnte Anne doch als passende Partie betrachtet werden, wenn mehr über ihren Hintergrund bekannt wäre.
Aber das war natürlich unmöglich.
War das vorstellbar? Dass sie Lady Pleinsworth die Wahrheit über sich erzählte?
Nun, die Sache ist die, ich bin keine Jungfrau mehr.
Und ich heiße auch nicht Anne Wynter.
Ach, und ich habe einen Mann mit einem Messer verletzt, und nun verfolgt er mich wie ein Irrer, bis ich tot bin.
Ein verzweifeltes, hilfloses Kichern schlüpfte ihr über die Lippen. Was für ein Lebenslauf!
„Ich bin eine richtig gute Partie“, sagte sie in das dunkle Zimmer, und dann lachte sie noch ein wenig. Vielleicht weinte sie auch. Nach einer Weile konnte man das nicht mehr so genau auseinanderhalten.
15. Kapitel
Am folgenden Morgen, noch bevor irgendein weib-liches Mitglied seiner Familie seinem ungehörigen Benehmen einen Riegel vorschieben konnte, ging Daniel den Flur hinunter und klopfte scharf an die Tür des blauen Gästezimmers. Er trug bereits Reisekleidung; er hatte vor, binnen einer Stunde nach London aufzubrechen.
Von innen war keinerlei Geräusch zu hören, und so klopfte Daniel noch einmal. Diesmal vernahm er leises Rascheln, gefolgt von einem erschöpften: „Herein.“
Er trat ein und schloss die Tür hinter sich, gerade als Anne entsetzt rief: „Mylord!“
„Ich muss mit dir reden“, sagte er knapp.
Sie nickte, zog eilig die Decken bis zum Kinn empor, was er wirklich lächerlich fand, bei dem unattraktiven Sack, den sie anstelle eines Nachthemds trug.
„Was hast du hier zu suchen?“, fragte sie und blinzelte wie verrückt.
Ohne Einleitung erklärte er: „Ich fahre heute früh noch nach London.“
Sie schwieg.
„Bestimmt weißt du inzwischen, dass der Riemen durchtrennt wurde.“
Sie bejahte.
„Es war Lord Ramsgate“, berichtete er. „Einer seiner Männer. Vermutlich der, nach dem ich kurz geschaut hatte. Ich habe gesagt, es handle sich um einen Trunkenbold.“
„Du hast gesagt, er hätte zwischen Stall und Wirtsstube alles auf den Kopf gestellt“, wisperte sie.
„Allerdings.“ Er spannte alle Muskeln an, um sich zum Stillstehen zu zwingen. Wenn er sich jetzt bewegte, wenn er sich nur einmal gehen ließe, er
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