Ein Earl mit Mut und Leidenschaft
jetzt ganz die Pädagogin.“ Lady Pleinsworth lächelte. „Aber genau das erwarten wir ja von einer Gouvernante, nicht wahr?“
Anne war sich nicht sicher, ob sie eben ein Kompliment erhalten hatte oder an ihren Platz verwiesen worden war.
Lady Pleinsworth ging zur Tür und drehte sich noch einmal um. „Oh, und was das anbetrifft, machen Sie sich wegen der Mädchen keine Gedanken. Lady Sarah und Lady Honoria werden Sie während Ihrer Genesung vertreten. Ich bin überzeugt, dass die beiden einen vernünftigen Stundenplan aufstellen können.“ „Rechnen“, sagte Anne und gähnte. „Sie müssen rechnen.“ „Dann also Rechenstunden.“ Lady Pleinsworth öffnete die Tür und trat auf den Flur. „Versuchen Sie, sich ein wenig zu erholen. Aber schlafen Sie nicht.“
Anne nickte und schloss die Augen, obwohl sie wusste, dass sie das nicht sollte. Sie glaube jedoch nicht, dass sie einschlafen würde. Körperlich war sie erschöpft, doch ihre Gedanken überschlugen sich. Alle sagten, mit Daniel sei alles in Ordnung, doch sie machte sich dennoch Sorgen, und damit wäre erst Schluss,
wenn sie ihn selbst gesehen hätte. Jetzt konnte sie da allerdings nichts unternehmen, nicht wenn sie kaum laufen konnte.
Und dann kam Frances hereingehüpft, sprang zu Anne auf das Bett und begann, für drei zu schwatzen. Es war, wie Anne später erkannte, in diesem Augenblick genau das Richtige für sie.
Der restliche Tag verging recht friedlich. Frances blieb, bis der Arzt kam, der sagte, dass Anne bis zur Dämmerung wach bleiben sollte. Dann kam Elizabeth und brachte ein Tablett mit Kuchen und Süßigkeiten mit, und schließlich Harriet, die einen kleinen Stapel Papier dabeihatte - ihr augenblickliches Werk, Heinrich VIII. und das Einhorn des Verderbens.
„Ich bin mir nicht sicher, ob Frances sich mit einem bösen Einhorn zufriedengibt“, wandte Anne ein.
Harriet hob eine Augenbraue. „Sie hat nicht ausdrücklich gesagt, dass es ein gutes Einhorn sein müsste.“
Anne seufzte. „Du hast eine Schlacht vor dir, mehr habe ich dazu nicht zu sagen.“
Harriet zuckte mit den Achseln. „Ich fange mit dem zweiten Akt an. Der erste war eine totale Katastrophe. Ich musste alles zerreißen.“
„Wegen des Einhorns?“
„Nein“, erklärte Harriet und zog eine Grimasse. „Ich habe Heinrichs Frauen durcheinandergebracht. Die Reihenfolge ihrer Schicksale ist folgendermaßen: geschieden, geköpft, gestorben, geschieden, geköpft, verwitwet.“
„Eine heitere Angelegenheit.“
Harriet bedachte sie mit einem empörten Blick und sagte: „Ich habe eine Scheidung mit einer Hinrichtung vertauscht.“
„Dürfte ich dir einen Rat geben?“, fragte Anne.
Harriet sah auf.
„Lass das niemand hören, der den Zusammenhang nicht kennt.“
Harriet lachte laut auf und schüttelte dann ihr Manuskript, um anzudeuten, dass sie jetzt anfangen wolle. „Zweiter Akt“, las sie schwungvoll. „Und keine Angst, Sie werden nicht durcheinanderkommen, vor allem jetzt, da wir das Ableben der Frauen schon besprochen haben.“
Doch bevor Harriet zum dritten Akt gelangen konnte, trat Lady Pleinsworth ins Zimmer. Ihre Miene war drängend und ernst. „Ich muss mit Miss Wynter sprechen“, sagte sie zu Harriet. „Bitte lass uns allein.“
„Aber wir haben doch noch nicht mal ...“
„Sofort, Harriet.“
Harriet warf Anne einen Was-kann-da-bloß-los-sein-Blick zu, auf den Anne aber nicht reagierte, nicht solange Lady Pleinsworth anwesend war und wie eine Gewitterwolke dreinschaute.
Harriet sammelte ihr Manuskript zusammen und ging hinaus. Lady Pleinsworth trat zur Tür, horchte, um sich zu vergewissern, dass Harriet nicht auf der anderen Seite stand, um zu lauschen, und wandte sich dann zu Anne um und sagte: „Die Riemen wurden durchtrennt.“
Anne keuchte. „Was?“
„Die Riemen. An Lord Winsteads Karriol. Sie wurden durchtrennt.“
„Nein. Das ist doch unmöglich. Warum sollte ...“ Doch sie wusste, warum. Und sie wusste auch, wer.
George Chervil.
Anne wurde leichenblass. Wie hatte er sie hier finden können? Und woher hätte er wissen sollen ...
Der Pub. Sie und Lord Winstead hatten sich mindestens eine halbe Stunde dort aufgehalten. Jedem, der sie beobachtet hatte, wäre klar gewesen, dass sie in seinem Wagen nach Hause fahren würde.
Anne hatte sich damit abgefunden, dass George Chervils Rachedurst sich mit der Zeit nicht legen würde, aber sie hätte nie gedacht, dass er so rücksichtslos wäre, jemand anderen dadurch zu
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