Ein Elefant im Mückenland
lag. Lucia musste dem Helden die Reitstiefel ausziehen, denn zum Reiter taugte er nicht mehr.
Lucia stand morgens ein wenig verärgert auf und be-trachtete den schlafenden Igor. Verflixter Kerl, lag da und schnarchte und erfüllte nicht seine Pflichten. Sie sah aus dem Fenster. Die kleine aus Balken gezimmerte Kirche stand, von der Morgensonne vergoldet, am Flussufer. Plötzlich musste Lucia an die Rauchsauna daheim in Lemi denken, die ihr Vater einst gebaut hatte und deren Wände jenen der kleinen Kirche ähnelten. Heimweh überkam sie, sie musste regelrecht die Tränen zurückhalten. Sie zog die Gardinen vors Fenster und kroch zu Igor ins Bett. Er stieß einen dumpfen Laut aus, wer weiß, wovon er träumte.
Am nächsten Tag erkundigte sich Lucia bei ihrer Schwiegermutter nach dem Rezept für sibirischen Stör, im Ofen gebacken und mit Pilzsoße serviert. Der hatte so vorzüglich geschmeckt, dass sie ihn gern für ihren Igor zubereiten wollte. Die Schwiegermutter freute sich über Lucias Interesse und schrieb ihr das Rezept auf. Erfor-derlich waren ein halbes Kilo Störfilet – wenn es keinen Stör gab, konnte man gern auch Lachs nehmen. Die Fischstücke wurden in Öl gebraten, bis die Haut kross war. Dann wurden zweihundert Gramm Steinpilze und die gleiche Menge Zwiebeln zerkleinert, in Pflanzenöl gebraten, und anschließend mussten sie einige Minuten ziehen. Nun wurden die Fischstücke darüber verteilt, und obendrauf kam noch eine Schicht Käse. Wirklich lecker!
Das Fest dauerte drei Tage, und erst danach verließen die Frischvermählten das Dorf. Der Tieflader brachte sie zum Bahnhof, und die Tournee ging weiter. Igor wohnte in seinem Zugabteil, Lucia in dem ihren. Ein gemeinsa-mes Bett bezogen sie nicht, da passte Lucia auf.
Trotz allem waren es gute Jahre, aber die Bahnschienen der zerfallenden Großmacht wurden bald für wichtigere Transporte als einen wandernden Zirkus gebraucht. Panzer und Truppen mussten zu den Kriegsschauplät-zen gebracht und von dort die Verwundeten und Toten abtransportiert werden. Schließlich mussten Lucia und Igor Mitte der 1990er Jahre ihren Zirkus aufgeben.
Lucia beschloss, mit der inzwischen schon großen Emilia nach Finnland zurückzukehren. In Igors Vergan-genheit gab es anscheinend dunkle Punkte, denn die finnischen Behörden bewilligten ihm kein Visum, ob-wohl er es eigens in St. Petersburg beantragte. Er ver-suchte Lucia zum Bleiben zu überreden, aber dazu war sie unter keinen Umständen bereit. Sie war schließlich eine Finnin, und das Vaterland bedeutete ihr viel.
»Du bist eine Verräterin, du tauschst einen Mann ge-gen einen Elefanten«, schimpfte Igor. Er könne sich nie wieder in sein Heimatdorf wagen, sagte er, denn ohne Frau sei ein Mann in Hermantowsk nichts wert. Lucia schlug ihm vor, seiner Familie zu erzählen, dass sie tot sei.
»Tot? Aber du lebst doch, das ist ja gerade das Schlimme!«, jaulte er.
»Sag, dass ich mit Emilia ertrunken bin, als die Fähre im Sturm auf dem Ladogasee kenterte. Wir waren un-terwegs, um im Kloster Valamo Trepak zu tanzen.«
Igor dachte darüber nach, akzeptierte aber nicht den Ladogasee als Ort des Ertrinkens. Sewastopol eignete sich aus seiner Sicht viel besser. Im Schwarzen Meer zu ertrinken klang irgendwie eleganter, das fand auch Lucia. Sie gingen zur Post, von der aus Igor seiner Mut-ter die Trauerbotschaft telegrafierte. Ihr Sohn war auf der Krim zum Witwer geworden.
Emilia wurde zu jener Zeit zehn Jahre alt. Ganz er-wachsen war sie noch nicht, denn Elefanten wachsen bis zu ihrem fünfzehnten, die männlichen Tiere sogar bis zum zwanzigsten Lebensjahr. Zum Zeitpunkt der Rückkehr nach Finnland betrug Emilias Risthöhe fast drei Meter, und laut Frachtpapieren wog sie 3,6 Tonnen.
LUCIA UND EMILIA
ZIEHEN NACH LUVIA
Anfang Juni zuckelten Lucia und Emilia in ihrem Wag-gon nach Mäntyluoto, dem Exporthafen von Pori, wo Lucia die junge Elefantendame auf ein Schiff verfrachten wollte, das nach Indien oder Afrika fuhr. Ihr schwebte vor, Emilia in die afrikanische Savanne oder vielleicht auch in den indischen Urwald zu ihren Artgenossen zu schaffen, beides Orte, an denen es ihr vielleicht gut gehen würde. Genug Geld für die Fracht besaß Lucia noch. Aus der Reise wurde jedoch nichts, denn kein Schiff wollte einen Elefanten an Bord nehmen, die See-leute reagierten mit Scheu, ja Furcht, und die Kapitäne sahen sich außerstande, im Laderaum zwischen den modernen Containern ein riesiges, wildes Tier unterzu-bringen, das
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