Ein Elefant im Mückenland
sah sie mit seinen fahlen Augen an.
»Ach, ich möchte so gern mal eine richtige Zirkusprin-zessin im Arm halten.«
Oft musste die Bäuerin ihren Mann wegholen, damit er der Untermieterin nicht auf die Nerven ging.
Lucia machte es sich zur Gewohnheit, mit Emilia in den Nachbardörfern von Haus zu Haus zu ziehen, um Futter zu besorgen. Sie konnte es sich nicht verkneifen, bei der Gelegenheit Vorstellungen zu geben, die für viel Aufsehen sorgten. Der Elefant war sehr beliebt.
Der Sommer verlief angenehm, trotz Oskari Länsiös Sauferei und seiner frivolen Annäherungsversuche. Schließlich aber verlor Lucia dann doch die Geduld. Um Oskari in die Schranken zu weisen, zeigte sie ihm ihr Hochzeitsfoto, auf dem sie und Igor eng umschlungen auf dem Festplatz in Hermantowsk standen, Igor in der feierlichen Uniform des Kosakenoffiziers, im Hintergrund zweitausend Hochzeitsgäste.
»Igor kommt und bringt dich um, wenn du dich nicht endlich benimmst. Ich telegrafiere ihm nach Russland.«
Im August griff der lange Arm der Europäischen Uni-on wieder so hart in Lucias und Emilias Leben ein, dass es ihnen nicht mehr möglich war, durch die Dörfer zu ziehen oder gar Vorstellungen zu geben.
DIE NEUE STRENGE LINIE
DER EUROPÄISCHEN UNION
Die EU verabschiedete im August 1996 eine neue, noch strengere Richtlinie bezüglich des Einsatzes von wilden Tieren im Zirkus. Jetzt ging es nicht mehr nur um Ele-fanten, sondern auch noch um andere, an sich sympa-thische Geschöpfe Gottes: »Im Zirkus und in damit vergleichbaren Vorstellungen, in denen Tiere mit an-dressierten Kunststücken auftreten, dürfen keine Affen, keine Raubtiere, keine in der Natur aufgewachsenen Wiederkäuer, keine Huf- und Beuteltiere, keine Robben, Elefanten, Nashörner, Flusspferde, Raubvögel, Strauße oder Krokodile eingesetzt werden.«
Die Europäische Union zeigte sich jedoch großherzig und unterstrich, dass gezähmte Hunde und Hauskat-zen, Seelöwen, Ponys, Pferde und Esel weiterhin in den oben genannten Vorstellungen auftreten durften.
Dies geschah Anfang August. Emilia war jetzt bereits zum zweiten Mal als untauglich für zirzensische Auftrit-te eingestuft worden. Das arme mutterlose Wesen hatte sich inzwischen an die Menschen gewöhnt, galt aber als wildes Tier, was natürlich auf ihre Vorfahren auf jeden Fall zutraf. Was tun? Die strenge Abgrenzung zwischen Mensch und Elefant trat jetzt in Finnland endgültig in Kraft. Ein Elefant durfte nicht auftreten, selbst wenn er es wollte, dem Menschen war das noch gestattet. Zum Beispiel am Stadttheater von Kajaani gab es zu diesem Zeitpunkt immerhin zwölf fest angestellte Schauspieler, die Regisseure waren häufig Gäste von auswärts. In das, was die Menschen auf der Bühne trieben, mischte sich die EU nicht ein, obwohl manchmal wirklich Grund dazu bestanden hätte.
Lucia Lucander alias Sanna Tarkiainen war im Jahre 1996 erst dreißig, also noch jung und stark genug für das anstrengende Zirkusleben. Sie war nicht nur Tier-pflegerin, sondern auch Zirkusprimadonna mit langer Karriere, sie war einst Abend für Abend mit ihrem Ele-fanten in der Manege des Großen Moskauer Zirkus aufgetreten. Im fernen Mittelasien und auf den fremden Bahnhöfen in Sibirien hatte sie ihr Programm stets akkurat absolviert. Lucia war eine erfahrene und eigen-ständige Zirkuskünstlerin, aber jetzt war eine Situation eingetreten, in der Elefanten und andere als wild gelten-de Tiere nicht mehr öffentlich auftreten und Kunststü-cke machen durften.
Lucia stand vor der Entscheidung, ihrer langjährigen Freundin das letzte Lebewohl zu sagen. Für Emilia war kein Platz mehr in Finnland, es war ja nicht einmal mehr erlaubt, einen Elefanten einfach nur vorzuführen. Schweren Herzens rief Lucia in der Fleisch verarbeiten-den Fabrik von Satakunta an und bat, das Schlachtauto zu schicken.
Am folgenden Morgen erschien auf dem Hof der Län-siös ein schweres Viehauto, dem der Fahrer Pekka Laakso entstieg. Er erkundigte sich, wo die Tiere seien, die zum Schlachten abtransportiert werden sollten. Laut Frachtbrief sollten es mehr als drei Tonnen sein, also vermutlich eine ganze Wagenladung Kühe.
Lucia war gerade dabei, Emilia zu füttern. Bauer Län-siö sagte dem Fahrer, dass er keineswegs beabsichtige, seine zehn guten Milchkühe wegzuschaffen, aber:
»Drüben im Hühnerstall steht ein Elefant, aus dem soll Fleisch gemacht werden.«
Schlachthoffahrer Laakso wollte seinen Augen nicht trauen, als er Elefantendame Emilia sah, die
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