Ein Ende des Wartens
misslaunig war Annika deswegen keineswegs, denn immerhin bedeutete eine schlafende Tammy, dass sie nicht andauernd in eine Unterhaltung gezwungen wurde, in der es um Marco und ihre beschädigte Beziehung ging.
Annikas Blick wanderte oft von der Fahrbahn zu der Anzeige des Navigationsgerätes. Fast wie Kaugummi zogen sich die Kilometer dahin, und es schien, als würden sie wohl nie ankommen. Annikas Gefühlszustand wurde mit jedem weiteren Kilometer tumber und tumber, denn je weiter sie nach Norden kamen, desto leerer wurden die Autobahnen. Hier oben, oberhalb von Hamburg, schien es, dass keine einzige Menschenseele wach und unterwegs war, und immer, wenn ihnen ein Auto oder ein LKW begegnete, schrak Annika aus ihrer Gedankenstarre auf.
Erst als sich die Anzeige von einer dreistelligen Restkilometeranzahl auf eine zweistellige veränderte, bekamen die Zahlen mehr Bewegung, denn nun zeigte das Navigationsgerät auch die Hundertmeter hinter dem Komma an. Annika sah den Veränderungen eine Zeitlang zu, ehe sie sich eine von Tammys Getränkeflaschen nahm, ohne dass ihre Beifahrerin davon auswachte. Das Getränk vermochte Annika ein wenig Frische zu verleihen und hielt sie bis knappe fünfzig Kilometer vor ihrem Ziel wach. Der gesamte Himmel war düster, und auf einem Schild wurde die allerletzte Tankstelle auf dieser Autobahn vor der dänischen Grenze angekündigt.
Da Annika seit ihrem Verlassen von Carmens und Tammys Haus nicht mehr auf Toilette gewesen war und sie inzwischen dringend musste, entschied sie, auf den Rastplatz zu fahren. Wiederum wachte Tammy beim Rausfahren und Abbremsen auf, wunderte sich kurz, wo sie waren, und erhielt die Antworten von Annika und dem Navigationsgerät.
Dann sind sie bald schon da, frohlockte die aufwachende Beifahrerin. Wie cool!
Sie müsse auf Toilette, erklärte Annika, ohne explizit gefragt worden zu sein.
Das müsse sie auch, meinte Tammy, schob die Decke weg und begann, sich die Schuhe anzuziehen.
Sie habe die Cola getrunken, meinte Annika noch und zeigte auf die leere Flasche, die im Becherhalter zwischen ihnen stand.
Die sei doch auch für sie bestimmt gewesen! Damit sie während des Fahrens nicht einschlafe, sagte Tammy lachend und kramte in ihrer Handtasche nach ihrem Portemonnaie. Als sie es fand, drehte sie sich wieder nach vorne, sah, wie Annika den Wagen auf einen Parkplatz vor dem Tankstellengebäude abstellte und beide stiegen aus. Die grellen Lichter der Tankstellenbeleuchtung stachen ihnen in die Augen, und als die beiden Freundinnen in den hell erleuchteten Innenraum traten, mussten sie sich erst einmal orientieren, um den Weg zu den Toiletten zu finden.
Als sie wenige Minuten später erleichtert zurückkamen, entschieden sie sich beide für einen Kaffee und einem Croissant, das verlockend frisch aussah – ganz im Gegenteil zu dem Kassenwart, dessen Gesichtszüge eine Mehrfachbelastung durch mehrere Arbeitsstellen vermuten ließen.
Mit knarziger Stimme sagte er den Preis für die beiden Kaffees und Croissants und Tammy beglich die Rechnung, ohne Annikas Anteil anzunehmen, den sie ihr hinhielt. Da Annika keine Lust hatte, um diese Uhrzeit mit ihrer Freundin um einige Euros zu streiten, steckte sie ihre Münzen wieder ins Portemonnaie, nahm ihren Kaffee, tat Milch und Zucker hinein, rührte um und hatte gleich beim ersten heißen Schluck das Gefühl, dass ihr gesamter Körper viel wacher wäre.
Das Croissant und den Kaffeebecher in der Hand traten die Freundinnen aus der Tankstelle heraus und atmeten die kühle Luft in ihre Lungen. Das gesamte Gefühl war derart belebend, dass Tammy ihre Augen schloss und tief ein- und ausatmete. Als sie ihre Augen wieder öffnete, erschrak sie dermaßen, dass sie nur mit Mühe und Not ihren Kaffeebecher in der Hand halten konnte. Aus dem Nichts heraus kam ein Mann auf sie zu, den die beiden vorhin nicht bemerkt hatten. Er war noch recht jung, wenn auch ungepflegt. Der Tramp – denn es war augenscheinlich einer, hatte einen riesigen Wanderrucksack auf dem Rücken und hielt ein Schild in der einen Hand, auf dem Dänemark stand.
Er wolle nach Dänemark, sagte er nun auch in einer merkwürdig metallisch klingenden Stimme, bei der die beiden Frauen sich nicht sicher sein konnten, ob es ihre Müdigkeit oder die Seltsamkeit des Bittstellers war.
Ob die beiden ihn ein Stück Richtung Dänemark mitnehmen würden. Sie könnten ihn auch dort rauslassen, wo sie die Autobahn verlassen würden, wenn sie nicht gar bis nach Dänemark
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