Ein Ende des Wartens
nicht so, wie er ihn geplant hatte!
Doch die Ruhe des Moments und die Schönheit des Sitzens auf der Veranda im Halbschatten des Hauses ließen Annika die Gedanken an Marco für den Moment aus ihrem Kopf schieben, und seltsamerweise regten sich deswegen keinerlei Schuldgefühle, wie sie sie eben noch beim Aufwachen verspürt hatte. In diesem Augenblick auf der Veranda war es ihr sprichwörtlich egal, was mit Marco war – sie jedenfalls saß im Schatten eines wunderschönen Ferienhauses, hörte rein gar nichts außer ein paar Vögel und ab und an mal das Geräusch einer landwirtschaftlichen Aktivität und genoss den kalten Tee.
Nach einer Weile des inhaltlosen Schauens durch die Gegend schloss Annika die Augen, atmete tief durch und fokussierte sich darauf, durch den Bauch zu atmen. Ein Wohlgefühl durchlief ihren Bauch, und plötzlich hatte sie eine Ahnung davon, was wirkliche Entspannung zu heißen schien: die Kombination aus völliger Ruhe, Abgeschiedenheit und eine Ichbezogenheit, ein Insichkehren, um die Welt außerhalb sich selbst zu überlassen.
Die Ruhe hatte sich in Annikas gesamten Körper ausgebreitet, als sie nahende Schritte aus dem Hausinnern vernahm, und nur wenig später stand Tammy in der Türe und blickte mit verschlafenem Blick zu ihrer Freundin.
Sie sei ja wieder unter den Lebenden, scherzte Annika, und Tammy gab zurück, dass ausgerechnet Annika dies sagen würde, wäre aufgrund ihres steinhaften Schlafes eher als Witz zu verstehen.
Tammy trat nach draußen und streckte sich in alle Richtungen, ehe sie sich zu Annika auf die Bank setzte.
Ein schöner Flecken Erde sei das hier oben, kommentierte Tammy das, was die beiden sahen.
So ruhig und friedlich, bestätigte Annika die Meinung ihrer Freundin.
Wie lang sie schon hier draußen säße, wollte Tammy wissen.
Annika sagte ihrer Freundin die Uhrzeit, bei der sie aufgestanden war und hielt ihr die Tasse mit dem Tee hin, die Tammy nahm und in einem Zug leer trank.
Sie gehe mal neuen Tee machen, sagte Annika, als sie die leere Tasse zurückbekam, stand auf und verließ die Veranda Richtung Küche. Erstaunlicherweise fand sie dort eine Packung mit Tee und sie fragte sich, ob das der Tee der Vermieterin sei oder ob frühere Gäste die offene Packung zurückgelassen hatten. Um sicherzugehen, dass keine weiteren Lebensmittel auf ihr Verschimmeln warteten, öffnete sie den Kühlschrank und die meisten Schränke, doch außer ein paar übliche Küchenutensilien fand sie keine weiteren Nahrungsmittel.
So wird es wohl auch in Afrika sein, schoss ihr durch den Kopf, und sie fragte sich, ob sie sich vorstellen konnte, selbst ein Jahr in einem der vielen Länder Afrikas zu verbringen. Wobei ihr bewusst war, dass es grundlegende Unterschiede zwischen dem Leben in den küstennahen Großstädten und einem Leben an einem abgeschiedenen Ort mitten im Nichts gab. Doch selbst ein Leben in einer afrikanischen Großstadt, und sei es auch nur für ein Jahr, konnte sich Annika nicht wirklich vorstellen.
Ihre Gedanken wurden durch das Klicken des Wasserkochers aus Afrika wieder ins Hier und Jetzt zurückgezogen. Annika nahm den Wasserkocher auf und übergoss die aus dem Papier befreiten Teebeutel mit dem brodelnden Wasser, stellte den Kocher zurück auf die Anrichte und sah zu, wie sich das Teewasser binnen Sekunden dunkelbraun färbte.
Während sie dem sich färbenden Wasser zusah, wanderten ihre Gedanken wieder von dem Ort dieses Ferienhauses fort, weit hinweg, und landeten erstaunlicherweise bei ihrem Vater, einem Mann, der so undurchsichtig wie dieses Teewasser hier war. Annika hatte sich schon seit einer gefühlten Ewigkeit keine Gedanken mehr über ihren Vater gemacht, sondern wenn, dann immer über ihre Mutter. Ihr Vater war so etwas wie ein Versorger, der in ihrer Jugendzeit zu Hause zwar physisch anwesend gewesen war, ohne dass er jedoch irgendeinen größeren Einfluss auf ihr Leben gehabt hatte. Ein dienstbeflissener Beamter auf dem städtischen Bauamt, der sich abends ganz seinem Hobby, dem Zusammensetzen von Miniaturmodellen hingab – einem Hobby, bei dem außer ihr Bruder Erik niemand stören oder mitmachen durfte.
Warum ausgerechnet drangen in diesem Moment Bilder ihres Vaters in den Kopf? Welcher Natur waren diese Bilder? Dieser Frage nachgehend erinnerte sie sich an Bildersequenzen, die sie wohl im Urlaub mit der Familie zeigten, zu einer Zeit, als sie noch einigermaßen normal miteinander umgegangen sind. Da musste Annika wohl zehn oder elf
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