Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Ein Engel an Güte (German Edition)

Ein Engel an Güte (German Edition)

Titel: Ein Engel an Güte (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ippolito Nievo
Vom Netzwerk:
trat er nicht offen für dieses sein Empfinden ein und ließ die Welt, wie sie war; nur dort, wo er eine Leerstelle fand, bemühte er sich, diese nach seiner Weise zu gestalten. Bei der kleinen Morosina musste sich alles erst noch herausbilden, als er sie zum ersten Mal in die Arme schloss. Da war Chirichillo in seinem Element, und nachdem er diese kleine Seele in die Hände genommen hatte, begann er, sie nach dem Bild zu formen, das ihm vorschwebte.
    An oberster Stelle die Herzensgüte. Der arme Mann war zu sehr Venezianer, um etwa spartanische Tugenden obenan zu setzen wie«Selbstachtung»,« Gerechtigkeitssinn»oder«Vaterlandsliebe». Für ihn war Herzensgüte der Dreh- und Angelpunkt jeder moralischen Vollkommenheit, daher waren Lieben, Trösten, Glauben, Verzeihen, Gehorchen seine Lieblingsverben, und alles, was er sagte und tat, war dazu angetan, Morosina deren praktische Anwendung einzuprägen. Sodann folgte in seinem Wertesystem die Seelenstärke, ohne die seiner Meinung nach wahre Herzensgüte nicht auskommen kann, alldieweil es der größte Vorzug der Stärke ist, dass man sich auch im Unglück die Güte des Herzens bewahrt. Durch das Fehlen eben dieses Elements der Seelenstärke war die venezianische Güte zur bloßen Gutmütigkeit verkommen, und darauf führte er bei sich die moralische Verwirrung zurück, die er im Stillen beklagte. Und auf diesem Weg gelangte er zur Notwendigkeit der Sittlichkeit; verstandesmäßig begriff er wenig davon, vielleicht, weil er in der allgemeinen Verkommenheit die Orientierung verloren hatte, auch wenn er selbst sich vollkommen rein erhielt. Da sprach er dann von den Geboten Gottes, denen er sich unterwarf, und er anempfahl Morosina die Verehrung des heiligen Antonius, der ihn selbst, als er schlechten Vorbildern nacheiferte, davor bewahrt hatte, im Laster Schiffbruch zu erleiden. Und nach diesem Geständnis seufzte er, wodurch er zu erkennen gab, dass auch er nicht gegen jegliche menschliche Schwäche gefeit war und dass der junge Herr ihn vielleicht in noch ganz anderen Dingen zum Gefährten gehabt hatte als beim Studium. Wie dem auch sei, er hatte sich jedenfalls aus diesen kleinen Verfehlungen gelöst, und in seiner aufrechten Natur hatte sich kein Laster erhalten, obwohl sein Urteil in diesen Belangen vielleicht an Sicherheit eingebüßt hatte. Ergänzend zu dieser Moral, die gewiss weder aristotelisch noch epikureisch ist, 29 predigte er Geduld, worunter er die vollkommene Unterwerfung unter die bestehende natürliche oder gesellschaftliche Ordnung verstand, in der er das Werk der Vorsehung erblickte, und wenn einer sich erdreistete, sie anzutasten, so zieh er ihn der Gotteslästerung.
    Über die Maßen absonderlich war der Glauben, aus dem er einen weiteren Beweggrund für diese letzte Tugend herleitete, er hielt nämlich die Seelenwanderung für eine unbestreitbare Tatsache und behauptete, das jetzige Leben sei Belohnung oder Strafe für frühere Leben, weshalb man sich darauf weder etwas einzubilden noch damit zu hadern brauche. Diese Glaubensmeinung war der Fixpunkt in seinem Denken, von dem alles andere abhing; alles bezog sich darauf und alles leitete sich von hier ab. Er sprach nur selten darüber, doch bei ernsten Anlässen tat er es mit gewichtiger, feierlicher Miene; er selbst dachte viel darüber nach und erklärte sich auf diese Weise jeden eklatanten Widerspruch, der ihm begegnete. Äußere Anzeichen für solche Grübeleien waren ein Zusammenziehen der Augenbrauen und ein Aufschlagen des Blicks zum Himmel, und dann verharrte er so, bis endlich die Verzückung, befreit von den Anfechtungen des Zweifels, in ein seliges Lächeln überging. Seine Überzeugung von der Wahrheit dieses pythagoreischen Glaubens 30 hatte im Übrigen eine äußerst solide Stütze an seinem Gedächtnis, das sich nach eigenem Bekunden auf fünf verschiedene, aufeinanderfolgende Leben erstreckte. Von den näher zurückliegenden erinnerte er sich an die geringsten Kleinigkeiten, die anderen, sagte er, verblassten mehr und mehr, bis sie in völliger Dunkelheit verschwanden.« Das ist nur natürlich», sagte er,«dass mein Gedächtnis wie alles seine Grenzen hat; aber seine geringe Reichweite kann mich nicht davon überzeugen, dass ich nicht vor diesen fünf Leben womöglich ein weiteres Dutzend Mal gelebt habe!»
    « Aber wie kommt es dann», wandte man ein,« dass wir uns an diese vielen Aufenthalte auf der Welt überhaupt nicht erinnern?»
    « Hört zu», antwortete er.«Eure

Weitere Kostenlose Bücher