Ein Engel an Güte (German Edition)
Täuschungen der Scheu erlernt! Für starke Seelen ist die Erwartung gewiss eine Übung in Tugend, Standhaftigkeit und Feingefühl; dies Urteil wollen wir aber nicht angewandt sehen auf Gemüter, die aus Schwäche ungeduldig, aus Feigheit unentschlossen sind oder der bösen Früchte ihrer Ungerechtigkeit gewärtig sein müssen.
Zurückgekehrt in ihr kleines Zimmer, das bereits all der Anzeichen entblößt war, die einen Raum als bewohnt kenntlich machen und an denen sich Gewohnheiten und mitunter auch die geheimsten Regungen seines Bewohners ablesen lassen, öffnete Morosina noch einmal die Kiste, entnahm ihr ein Buch, setzte sich ans Fenster und wartete . Dank der Höhe des Klosterbaus genoss man von dort über die Gärten der Giudecca und den Sandstrand des Lido hinweg freie Sicht auf die Weite des Meeres. Bald glühend rot im Gesicht, bald blass, warf das Mädchen einen Blick auf das Buch, eine Gedichtsammlung des Petrarca 35 ; sodann ließ sie ihn über dieses endlos weite Blau schweifen, das sich unter der lichten Himmelswölbung vor ihr dehnte, hie und da von weißer Gischt gesprenkelt oder von einem sehr ruhigen Grün durchzogen. Wie viel Poesie, wie viel Leben hatte nicht in den vergangenen sechs Jahren ihr Geist aus diesem Anblick gesogen, wie viel Poesie, wie viel Leben ihr Herz! Und wie viel Fruchtbares hatte sie nicht dem Bändchen zu verdanken, das sie in Händen hielt! In ihm hatte die keusche Seele Empfindungen kennengelernt, die den ihrigen vollkommen glichen. Wenn sie wieder und wieder diese bewunderungswürdigen Verse las, die sie meist mehr durch intuitives Erfassen begriff als durch analytisches Verstehen, wollte sie darin die ewige Sprache des Herzens erkennen und erachtete die schändlichen Leidenschaften, von deren widerwärtigem Gebrodel sie sich umgeben sah, für nicht mehr als monströse Erscheinungsformen vergänglicher Laster. Jetzt allerdings vermochten weder das Meer, die höchste Inspirationsquelle, noch die keuschen Verse des Petrarca durch die Blicke, die sie ihnen von Zeit zu Zeit schenkte, Morosinas Seele zu berühren. Eine andere Welt war zwischen sie getreten, ein anderer Gedanke: das Leben. Bisher hatte sich ihr ganzes Sinnen und Trachten auf ein vorsichtiges Sich-Heraushalten beschränkt, auf ein Auf-der-Hut-Sein vor den Legionen von Lastern und lasterhaften Menschen, die sie ringsum bedrängten. Jetzt begann ein neuer Lebensabschnitt, worin ihre Gefühle wohl mit den Gefühlen anderer in Widerstreit treten würden, ihr Wirken am Wirken anderer scheitern oder darüber triumphieren würde. So tauchte im Augenblick ihres tiefsten jugendlichen Friedens eine unaussprechliche Beklemmung auf und vergällte ihr alle Zufriedenheit. Denn die Ärmste, sie fühlte, dass sie zu gut war, um diesen Kampf, in den neue Wünsche sie drängten, erfolgreich und glücklich bestehen zu können. Welche der Befürchtungen und Wünsche dann überwogen und wie die Hoffnung sie schließlich miteinander in Einklang zu bringen vermochte, das weiß jeder, der einmal jenes Vergessen alles Bösen, jenen Glauben an alles Gute erfahren hat, die man Liebe nennt; jene Liebe, der sich ein Leben, ein Jahr, einen Tag oder auch nur eine Stunde lang sämtliche aufrührerischen Bestrebungen unserer Seele unterwerfen. Und Morosina war in Gedanken damals ganz bei Celio; von daher neue Sorgen, neuer Kummer, im Wechsel mit goldenen Träumen vom Glück; da sie aber so gut wie keine Erfahrung besaß, wusste sie diese Liebe mit der Zukunft nicht in Einklang zu bringen, daher war die tröstliche Zuversicht von leisem Zweifel durchzogen. Kaum weniger verwirrte es sie, wenn sie sich die innige und freudige Umarmung des armen Alten ausmalte, der sie in ihrer Kindheit mit so viel Liebe auf seinen Armen gewiegt und mit frommen Lehren großgezogen hatte, und noch inniger und noch freudiger die Rückkehr in den Schoß der Familie und an den Busen des Vaters – und wenn sie dann noch an die Stiefmutter dachte! –, an deren Herz sie nicht zweifelte, weil sie noch nie am Herzen irgendeines Menschen gezweifelt hatte; und doch hatte sie Gründe genug gehabt, daran zu zweifeln, sowohl wegen der förmlichen Briefe, die sie von ihr erhalten, als auch wegen der Gleichgültigkeit, die sie ihr in all jenen Jahren bezeugt hatte! Diese Gedanken nahmen im Inneren des Mädchens jedoch nur vage Gestalt an, sie prallten aufeinander, wechselten sich ab mit Seufzern, Lächeln, Gebeten. Und unterdessen ging sie im Zimmer hin und her, warf einen Blick
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