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Ein Engel an Güte (German Edition)

Ein Engel an Güte (German Edition)

Titel: Ein Engel an Güte (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ippolito Nievo
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dazu, dass die erste nach empfangenem Kuss den Mund verzog, die zweite ihn sich verächtlich mit der Schürze abwischte, die dritte in Hohngelächter ausbrach und die vierte ihr den Rücken kehrte. Es waren ihrer achtzig, und bei keinem dieser Küsse konnte die Ärmste eine Spur von Anteilnahme erahnen. Die Nonnen bemerkten, wie fruchtlos ihre Ermahnungen geblieben waren, erschraken aber zu sehr darüber, als dass sie sich hätten freuen können. Während sie sich also doppelt ärgerten, einerseits über Morosina wegen des alten Grolls auf sie, den sie still für sich behalten mussten, andererseits über die Schülerinnen wegen dieser so unziemlichen Rebellion, suchten sie doppelt so viel Honigsüße in ihre Küsse zu legen, doppelt so viel Innigkeit in ihre Umarmungen, und ließen es auch nicht an Schluchzern, Tränen und Krämpfen fehlen. Zuletzt kam die Reihe an die Äbtissin, der es gewöhnlich nur oblag, die Hand hinzustrecken, auf dass man den Ring küsse. Diesmal jedoch hielt sie sich nicht an die Regeln des Zeremoniells, sondern küsste Morosina auf die Stirn und drückte ihr zwei dicke, mütterliche Küsse auf den Mund. Obwohl anfangs durch das Benehmen ihrer Gefährtinnen gekränkt, war das Mädchen doch so gutmütig, dass sie sich zuletzt durch die Gefühlsbekundungen der Lehrerinnen beeindrucken ließ, und die Rührung wurde so groß, dass aller Kummer im Überschwang von Liebe und Dankbarkeit unterging. Und als sie sich von den Lippen der Superiorin löste, beugte sie sich über ihre Hand und bedeckte diese mit Tränen und Küssen.
    « Genug, genug, meine Tochter!», sagte dieses Prachtstück von einer Frau, und die Stimme versagte ihr vor geheuchelter Rührung.«Gott segne dich; und im Namen deiner Gefährtinnen und meiner Schwestern in Christo bitte ich dich um Vergebung, falls durch Unachtsamkeit... irgendeine Unannehmlichkeit...»
    « Oh, was sagen Sie denn da, ehrwürdige Mutter?», unterbrach sie das Mädchen.«Ich habe um Verzeihung zu bitten, all diese guten Seelen mögen mir meine vielen Verfehlungen vergeben, über die ich tiefere Reue empfinde denn je.»
    « Der Himmel segne dich, mein Kind!», wiederholte die Äbtissin, die Arme zum Himmel erhoben. Sodann gab sie einer Schwester ein Zeichen, und die trat an Morosinas Seite, um sie in den Sprechsaal zu führen. Doch ein zweites Mal die Regeln des Zeremoniells durchbrechend, geleitete die Äbtissin sie höchstpersönlich bis an die Klosterpforte, und dort gab es erneut Tränen, Segenswünsche und Danksagungen. Endlich schloss sich die Tür des Sprechsaals und trennte so Lüge von Wahrheit.
    Während dieser letzten Stunde waren so ungewohnte, neue Empfindungen auf Morosina eingestürmt, dass sie die Wirklichkeit ganz vergessen hatte und daher wie versteinert stehen blieb, als sie eine ihr völlig unbekannte schwarze Gestalt vor sich sah.«Wo ist denn Chirichillo?», fragte sie, wie aus einem Traum erwacht, mit einem Blick in die Runde.
    Als die Schwester, die sie begleitete, diesen fragenden Blick sah, verzog sie den Mund, zuckte mit den Schultern und senkte den Kopf. Die schwarze Gestalt hingegen kam zwei Schritte näher und verneigte sich so tief, dass die Spanne des letzten Schritts, der ihn von dem Mädchen trennte, von seinem Rücken und der Lockenperücke ausgefüllt war, und in dieser demütigen Haltung überreichte er Morosina einen Brief, den diese fast unwillkürlich entgegennahm. Doch als sie ihren eigenen Namen in der Handschrift der Stiefmutter darauf erblickte, öffnete sie ihn, besorgter denn je. Beim Lesen sah man, wie sie zunächst erbleichte, ihr die Arme schlaffherabfielen und sie schließlich am ganzen Leib zitterte. Das Schreiben war wie gewöhnlich von der Stiefmutter, am unteren Ende zog sich jedoch über eine halbe Seite die Unterschrift des Podestà hin, und sein Wortlaut war:
    «Geliebtes Töchterchen,
übermorgen sollte Chirichillo bei Dir sein und Dich an jener Stätte des Friedens abholen, wo Du mit so viel Liebe aufgezogen worden bist. Doch der Mensch denkt, und Gott lenkt, und weder Chirichillo noch ich können von hier fort, da wir mit einer Unzahl hochwichtiger Amtsgeschäfte überhäuft sind. Jedoch auf das Zärtlichste um Dein Wohl besorgt und fest entschlossen, unsere Versprechen Dir gegenüber nicht zu brechen, haben wir auf Anraten Deiner Frau Mutter das großzügige Angebot unseres verehrten Gönners, Seiner Exzellenz Nicolö Formiani angenommen, der am festgesetzten Tag seinen Cappanera schicken wird, um

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