Ein Engel an Güte (German Edition)
gewähren, denn in ihrer Unerfahrenheit erschien ihr an diesem Tag das ganze Leben wie ein Traum oder wie eine Komödie. Dennoch besann sie sich der Ohrringe, die sie bis dahin getragen hatte, und fragte Adriana danach.
« Ich habe sie dort aufs Bett geworfen», antwortete diese.
Da nahm das Mädchen sie mit einer Art Ehrerbietung an sich und barg sie in einem Seitenfach der Schatulle.«Sie sind das einzige Andenken an meine Mutter, das mir geblieben ist», sagte sie mit einem Seufzer zu Adriana.
« Achja, die gute Chiaretta! », versetzte Formiani.
« Es ist doch recht, diese Andenken in Ehren zu halten?», begann Morosina erneut.«Wenn man eine geliebte Seele im Paradies hat, muss man an sie denken und sich ihr empfehlen, sie möge bei der Muttergottes für uns bitten, dass sie uns, wenn unsere Stunde gekommen ist, auch zu sich ruft.»
Die beiden Zofen sahen einander an, und es war ein Wunder, dass sie sich das Lachen über diese frommen Sprüche verkneifen konnten. Der Alte lachte keineswegs, sah Morosina aber halb verwundert, halb ungläubig an, sodass man annehmen musste, er sei zwar ein zu guter Christ, um über solche Sätze zu erstaunen, sei aber letztlich entweder von der Heiligkeit der Mutter oder von der Aufrichtigkeit der Tochter nicht so recht überzeugt.
« Ja, ja, mein Töchterchen», sagte er nach kurzem Zögern,«bewahrt diese Kleinigkeiten nur recht sorgfältig auf, denn man soll seine Eltern immer in Ehren halten, seien sie tot oder am Leben.»
Mit diesen Worten trat er ans Fenster, um etwas Luft zu schöpfen, und nach dieser Antwort schien er über sich selbst noch erstaunter als zuvor über die naiven Sentenzen des Mädchens. Moretta zupfte Adriana am Kleid, und die wäre fast herausgeplatzt, aber sie konnte das Lachen noch rechtzeitig durch ein Niesen kaschieren.
« Was gibt es denn da zu lachen?», sagte Seine Exzellenz und wandte sich um, leicht verärgert über den Spott, der ihm in diesem unterdrückten Lachen zu liegen schien.
« Nichts, Exzellenz!», antwortete Adriana.
« Nichts!», wiederholte Moretta. Diese, als die vorwitzigere von beiden, sprang zu Formiani hin und sagte:«Um Himmels willen, Exzellenz, hüten Sie sich bloß, mit einem so verrutschten Zopf aus dem Haus zu gehen!»
Und dabei gab sie Adriana einen Wink, während sie sich am Zopf des Inquisitors zu schaffen machte. Morosina lächelte ebenfalls über den Mutwillen der beiden Schelminnen, worauf der Alte sich der Mehrheit fügte:«Ihr macht euch lustig über mich, stimmt’s?», versetzte er freundlich.«Nun, habt nur euren Spaß, aber es ist Zeit zu gehen, denn ich sehe schon etliche Gondeln auf dem Kanal... Apropos, Moretta, denk daran, im Saal die Kerzen anzünden zu lassen.»
« Es soll geschehen», antwortete diese.
Langsam machte Formiani sich, den Korridor durchquerend, auf den Weg, Morosina folgte ihm. Als sie merkte, dass er aus einem gewissen Altersstolz heraus, weil er sich gut zu Fuß zeigen wollte, schneller ging, als er es eigentlich vermochte, hütete sie sich wohl, ihm den Arm zu bieten, zögerte vielmehr ein wenig auf der Treppe, indem sie so tat, als mache sie sich an einem Handschuh zu schaffen, und bot ihm so auf liebenswürdige Weise einen Vorwand, den Schritt zu verlangsamen. Dergestalt erreichten sie gemächlich die Gondel.« Die Dame zuerst!», rief der Inquisitor, indem er sich mit dem einen Arm auf seinen Rohrstock stützte und den anderen dem Mädchen bot.
Errötend und zitternd sprang Morosina auf den Rand der Gondel, doch als sie die Sitzplätze erreicht hatte, blieb sie respektvoll stehen.«Setz dich dort rechts hin, mein Töchterchen!», sagte der Alte, der auf die Schulter des Kammerdieners gestützt in die Gondel stieg.
Sodann streckte er sich zufrieden lächelnd neben seiner Patentochter auf den überaus weichen schwarzen Kissen aus.«Addio, Martino!», sagte er zum Kammerdiener.«Was meinst du? Bin ich heute Abend fünfzehn oder zweiundsechzig Jahre alt?»
« Fünfzehn, da möchte ich wetten», antwortete Martino.
« Hm, das glaube ich nicht», murmelte Formiani und sah seine schöne und schamhafte Begleiterin von der Seite her an.
Ein kräftiger Stoß mit der Hand, und die Gondel legte vom Palazzo ab; dann tauchten zwei Ruder mit regelmäßigen Schlägen ins Wasser, und schon war sie in der Mitte des Kanals, sich geschickt zwischen den Tausenden ihrer Schwestern hindurchschlängelnd.
« Schau dir Seine Exzellenz an», sagte auf dem Balkon Adriana.«Ich möchte wetten,
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