Ein Engel an Güte (German Edition)
hatte, daher ging er zu Fuß. Ganz in Gedanken versunken schritt er dahin und kam von seinem Heimweg ab; im Morgengrauen fand er sich am äußersten Punkt des Castello-Viertels nach Murano zu. So sah er zum ersten Mal nach fünfzehn Jahren die Morgensonne wieder, und er begriff die stille Poesie des Augenblicks, wenn sie ihre ersten Strahlen wie einen purpurgesäumten Goldmantel über das Meer breitet.
Auch Morosina, die sich nach einer kaum angerührten Abendmahlzeit und einem Kuss Formianis in ihre Gemächer zurückgezogen hatte, verspürte kein Verlangen zu schlafen, setzte sich ans Fenster und betrachtete den untergehenden Mond. Doch Adriana kam und riss sie aus diesen Betrachtungen mit der Frage, ob sie entkleidet werden wolle, und als sie verneint und gesagt hatte, Adriana solle nur ruhig zu Bett gehen, murmelte diese:«Es ist nur, sehen Sie... ich möchte gern ...»
« Was möchtest du, mein Kind?»
« Ich möchte Sie um eine Gefälligkeit bitten.»
« Um eine Gefälligkeit? Mich?»
« Ja, Sie, Exzellenz», versetzte Adriana mit völlig verstörtem Gesicht, wie man es vier Stunden zuvor nicht für möglich gehalten hätte.
« Sprich, sprich nur», sagte das Mädchen freundlich,« ich will für dich tun, was ich kann.»
« Es ist nur, sehen Sie, ich möchte Seine Exzellenz unseren Herrn um Nachricht von einem jungen Mann bitten... der mein Geliebter war..., nein, ist, und... ich traue mich nicht.»
« Ist das die ganze Gefälligkeit?», fragte Morosina lächelnd.
« Ja, das ist alles», antwortete die Zofe,«aber Sie wissen wohl gar nicht, wo der arme Giorgetto sich aufhält?»
« Ja, wo denn?»
« Er sitzt seit drei Monaten im Gefängnis!»
« Oh, er hat also gestohlen?», rief das Mädchen naiv.
« Aber nein», antwortete die Zofe.«Sehen Sie, ins Gefängnis werfen sie einen manchmal auch, ohne dass man so recht wüsste, warum ... und ich, sehen Sie, ich habe Grund anzunehmen... dass Giorgetto da drin sitzt wegen ein paar kleinen Reibereien, die er mit den Edelleuten von Venedig hatte. Aber nichts Schlimmes, sehen Sie, Gott bewahre ...! Er hatte tausend andere Gründe, und gar nicht so verkehrte, wie mir scheint... Einmal habe ich ihn tatsächlich nach der Ursache für seinen Groll gefragt, und jetzt erinnere ich mich nicht mehr genau daran, aber damals hat er mir alles so ausführlich erklärt, dass ich ihm beipflichten und sagen musste: ‹Ja, da hast du recht...!› Aber sagen Sie nur ja nichts davon weiter, denn sonst, sehen Sie, wäre man imstande, auch mich einzusperren, obwohl ich nur ein armes Mädchen bin!»
Morosina lächelte traurig, denn mittlerweile wusste auch sie, wie schnell die Meinungen der Geliebten bei den Frauen Glauben finden.
« Nun sag mir also», fragte sie,«wonach genau soll ich mich bei Seiner Exzellenz erkundigen? Mir scheint, du weißt recht gut, wie es um deinen armen Giorgetto steht!»
« Ja, bis gestern wusste ich es; aber heute, sehen Sie, habe ich Moretta von meinen Sorgen erzählt und dass ich mir Vorwürfe mache, weil ich mich nicht um ihn kümmere, und sie versprach, mir heute Abend ausführlichst Bescheid zu geben. Und wirklich habe ich heute durch sie erfahren, und sie ihrerseits hat diese Dinge von einem Gefängniswärter der Inquisitoren, einem neuen Verehrer von ihr, dass Giorgetto in aller Heimlichkeit mit einer Gondel aus dem Gefängnis geholt worden ist, anscheinend war er zur Verbannung verurteilt, was ja das geringere Übel wäre; stattdessen ist er eine Stunde später wieder zurückgebracht und in ein noch tieferes Verlies gesperrt worden, was nach Aussage dieses Gefängniswärters ein sehr schlechtes Zeichen ist, und nun habe ich Angst, dass man ihn in den Canale Orfano wirft.»
« Lass mich nur machen», sagte Morosina,«ich werde Seiner Exzellenz diese Sache ans Herz legen. Aber warum hast du nicht selbst schon früher mit ihm gesprochen?»
« Ich hatte Angst», antwortete Adriana.
« Angst vor dem Herrn Paten? Aber wenn er doch so gut und liebenswürdig ist, wie ein Mensch nur sein kann!»
« Ja, aber in Staatsgeschäften, sehen Sie, da hat es mit der Güte bald ein Ende, und ein Mensch zählt da weniger als eine Fliege.»
« Ach, hör doch auf, du Närrin!», erwiderte Morosina.« Sei unbesorgt, bald wird dein Giorgetto dich besuchen kommen.»
« Das gebe Gott», rief Adriana, von der Zuversicht ihrer Herrin unwillkürlich angesteckt.«Um seinetwillen würde ich auch dem Patron Carlino den Laufpass geben, der mich um jeden Preis
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