Ein Engel an Güte (German Edition)
erste, um diejenigen zu blenden, die wenig Einblick haben und die Republik Venedig zur Zeit der Kreuzzüge studieren ... Verdammt, vor ganz Europa einzugestehen, was wir sind...! Hier geht es um Sein oder Nichtsein, und solange ich lebe, wird eine solche Torheit nicht begangen... Ich wüsste schon, was zu tun wäre, werte Kollegen, ihr mögt ja ruhig die Einfaltspinsel bleiben, die ihr seid, solltet aber wenigstens ein bisschen Muskelkraft in den Armen haben...! Aber es ist längst zu spät», fuhr er fort, beim Nachdenken einzelne Worte laut vor sich hin murmelnd.«Heutigentags taugt ihr zu machtvoller Herrschaft ebenso wenig wie zu ehrbarer Knechtschaft... Man muss sich durchlavieren mit Notlösungen und Blendwerk, bis irgendwer eines Tages den ganzen Moder bemerkt und diese Karkasse mit einem Axthieb zertrümmert...! Ich möchte Julius Cäsar sehen, was er tun würde, wenn er an meiner Stelle wäre, der arme Kerl...! In den Rubikon springen und sich darin ersäufen, statt ihn zu überschreiten, das wäre wohl das Beste für ihn... Für ihn, aber nicht für diese ‹geliebten Ziegelsteine› (dies der ‹Kosename›, mit dem alteingesessener Venezianer unter sich ihre Stadt bezeichneten); und aus Liebe zu ihnen muss die Staatskunst zum Geschwätz verkommen... Man stelle sich nur vor, wenn es zum Beispiel irgendeinem slawonischen Gefreiten in den Sinn käme... Aber nein, das sind ja lauter gutmütige Trottel...!»
Er sah noch andere Papiere durch, dann schloss er die Augen und öffnete sie wieder:«Hoffen wir auf dieses unterirdische Grollen, das Gutes für die Zukunft zu verheißen scheint...! Soll doch diese ganze Bruchbude zusammenfallen», murmelte er,« wenn die neuen Baumeister nur genug Verstand und Material mitbringen, um an ihrer Stelle einen festen Tempel zu errichten! Bis dahin mag alles bleiben, wie es ist, damit es nicht womöglich noch schlimmer wird.»
Nach diesen Worten zog er die Klingel, kleidete sich mit Martinos Hilfe an, bestieg die Gondel und erschien um elf Uhr im Senat. Von dort aus schickte er Bastianello, er solle Morosina benachrichtigen, dass er am heutigen Tag des heiligen Antonius, wie es Brauch war, mit der Signoria und sämtlichen Gesandtschaften bei Seiner Durchlaucht dem Dogen geladen sei; sie möge entschuldigen, dass er ihr am Morgen aus Zerstreutheit nichts davon gesagt habe, und sie möge sich unterdessen mit den Personen, die er ihr zur Gesellschaft schicken werde, gut unterhalten.
V
Die drei Podestà von Asolo
Es war eine höchst eigentümliche Form der Herrschaft, welche die venezianische Signoria über die verschiedenen Gebiete der Terraferma und der Inseln ausübte, eine Herrschaftsform, die sich denn auch nicht im Überblick darstellen lässt, weil sie von Ort zu Ort anders aussah, und dies nicht so sehr wegen unterschiedlicher Voraussetzungen als wegen der ausgesprochenen Nachgiebigkeit, mit der sich die politischen Organe den Bräuchen der Untergebenen, den Ansprüchen des Adels und allen möglichen Formen der Usurpation anpassten. Je nach den Umständen beim Erwerb der Provinzen, nach Lebensdingungen und Wesensart von deren Bevölkerung übte die Signoria an einem Ort umfassend ihre Herrschaft aus, während sie andernorts ihre Autorität von frechen Grundherrn ungestraft usurpiert, angefochten, geteilt oder zu räuberischen Zwecken missbraucht sah und sich wieder anderswo auf ein bloßes Ehrenpatronat oder auf das Willkürrecht zu wucherischen Steuereinnahmen beschränkt fand. Dem ersten Typus gehörten außer der Serenissima selbst und dem Dogat die angrenzenden Provinzen Padua, Polesine 71 und Treviso an; zum zweiten Typus gehörten die übrigen italienischen Provinzen der Terraferma, wo der Adel zwar von jeder politischen Verfügungsgewalt ausgeschlossen, dank seiner Sonderbefugnisse und seiner Gerichtsbarkeit aber doch mächtig war und seinem tief sitzenden Hass auf das herrschende städtische Patriziat durch Willkürmaßnahmen gegen die Landbevölkerung Luft machte; zum dritten Typus gehörten schließlich die Besitzungen in Istrien, Dalmatien, Albanien und die Inseln. Allenthalben war die politische, administrative und gerichtliche Verfassung ein undurchdringlicher Wust von Bestimmungen aus sämtlichen Jahrhunderten, die in einem Bodensatz von Kleinkrämerei, Beharrungswillen und Ignoranz vor sich hin moderten. Nicht besser als die Institutionen waren die Beamten. Die Höhergestellten unter ihnen – die rettori , wie sie im Volk hießen – entstammten dem
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