Ein Engel an Güte (German Edition)
Schoß der herrschenden Aristokratie, waren aufgeblasen und von Schmeichlern umgeben, wenn reich, schmarotzerhaft und korrupt, wenn arm. Neben der Missachtung jeder Autorität pflanzten sie dem Volk zugleich von Generation zu Generation auch die lasterhaften Sitten der Hauptstadt ein. Um die Situation dieser abgetrennten Glieder der Signoria aber noch verheerender und lächerlicher zu machen, gesellte sich zum völligen Mangel an sittlicher Kraft die beständige Unsicherheit über die materielle Ausstattung sowie die Unzuverlässigkeit der wenigen Sbirren; die wurden in der Regel unterjenen Waffenknechten rekrutiert, die von den Grundherren aufgrund von Untauglichkeit oder wegen Diebstahls entlassen worden waren. Dieses Sbirrenunwesen war die schlimmste Geißel in allen Teilen der Republik, da es organisiertem Raub gleichkam und jeder Form von Missbrauch Tür und Tor öffnete. Nicht selten im Sold von zwei oder drei Herren gleichzeitig stehend und ausgesandt, irgendeinen aufsässigen Grafen zur Räson zu bringen, schlossen die Sbirren sich womöglich mit dessen Banden zusammen, um gemeinsam die Gegend zu plündern und das Elend zu verschlimmern. Dann erließen die Podestà jeweils große Proklamationen, drohten, aus Venedig eine Kompanie Schiavoni 72 kommen zu lassen – eine wirkungslos gewordene Androhung, seitdem die Schiavoni schlecht ausgebildet und noch schlechter ernährt an dem nach ihnen benannten Ufer als Staffage aufgestellt wurden. Am Ende schnappte man sich den dümmsten und erbärmlichsten unter den gewöhnlichen Verbrechern, renkte ihm mit dem Folterstrick 73 die Knochen aus, und so ward Gerechtigkeit geübt von Hand der Sbirren, die häufig selbst die schlimmsten Schandtaten begingen.
Folge davon war, dass eine derart verlotterte Justiz den Guten ein Schrecken und den Übeltätern ein Gegenstand des Spotts war. Trotz dieses Gebarens der venezianischen Beamten, oder vielleicht gerade wegen ihrer Schwäche, die bei ungleichen Kräfteverhältnissen immer Sympathie erweckt, vielleicht auch aus Hass auf den tyrannischen Provinzadel, dessen raue Sitten in scharfem Gegensatz zur sprichwörtlichen venezianischen Liebenswürdigkeit standen, legten die Untertanen eine unverkennbare Vorliebe für die Signoria an den Tag; den Namen San Marco auszusprechen war wie das Läuten des Glöckleins bei der Wandlung, alle neigten in Ehrfurcht den Kopf. So viel vermag auf der ganzen Welt die Güte, selbst wenn sie nur vorgetäuscht ist und keine Wirkung zeigt, zieht sie die Seelen doch magisch an und befähigt sie zu den großherzigsten Opfern. Bei der allgemeinen Verehrung der Landbevölkerung für San Marco und seine Abgesandten wurden diese einerseits von den Grundherren nie direkt angegriffen, weil sie sonst einen Massenaufstand im ganzen Land zu gewärtigen gehabt hätten, was für ihre Autorität tödlich gewesen wäre; andererseits hatte das Landvolk seinen Vorteil davon, weil die Signoria sich erkenntlich zeigte, sei es durch eine gewisse Nachsicht bei Steuern oder beim Waffentragen, sei es durch einen günstigen Marktpreis für Salz – seit jeher ein beliebter Köder, mit dem sich viele Fischlein fangen lassen.
Noch absurder wurde dieses Regierungssystem durch die unentwegten Versetzungen der patrizischen Beamten und die ewige Verweildauer der Untergebenen – die blieben an dem Fleck, wo sie geboren und aufgewachsen waren. Sie waren daher in ein Netz von Verpflichtungen, Klientelismus und Rücksichtnahmen verstrickt und pflegten aufgr und ihrer intimen Kenntnis der Amtsgeschäfte ihre Exzellenzen Vorgesetzten an der Nase herumzuführen. Und je gerissener ein Kanzler, ein Korrektor 74 oder Gerichtsschreiber war, umso besser wusste er sich für die paar Monate von dessen Amtsführung vor den Augen auch des umsichtigsten Beamten zu verstellen; und kaum kam der zufällig einer Betrügerei auf die Schliche, da war seine Amtszeit auch schon um, und es traf das Dekret ein, das ihn ans andere Ende der Republik versetzte; es begann das kurze Gastspiel hier eines neuen Podestà, dort eines neuen Inspektors, andernorts wieder eines neuen Grafen oder Schlossherrn, überall und aufjeden Fall aber eine Zielscheibe des Spotts. So sah«die Herrschaft zu Lande und zur See»der Serenissima aus. Wie verhängnisvoll der Zusammenprall der unterschiedlichen Rechtsprechungen war, mit welcher Verzögerung selbst sinnvolle Maßnahmen der Regierung ihre Wirkung entfalteten, wie verderblich sich der Gegensatz der Klassen in diesem
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