Ein Engel an Güte (German Edition)
vielmehr eine mehr oder weniger lang bemessene Zeit des Erduldens und des Opfers; immer noch war der Schmerz schrecklich, aber er hatte nun ein Maß, immer noch war er immens, raubte ihr aber nicht mehr die Besinnung. Wenn der Schlaf also auch zögerte, sich auf diese Lider herabzusenken, denen unwillkürlich immer noch Tränen entquollen, so kam er im Morgengrauen schließlich doch und gewährte ihr bis neun Uhr eine erquickende Ruhe, nach der sie sich erhob, in ihren frommen Vorsätzen gestärkter denn je und nun auch gewappnet mit den entsprechenden Kräften.
Erst zur Stunde der Mittagsmahlzeit trafen die Valiner im Speisesaal mit Formiani zusammen, der am Vormittag zweimal in den Palazzo geschickt und sich nach Morosinas Befinden hatte erkundigen lassen, wie es auch – fast unnötig zu sagen – Cavalier Terni getan hatte.«Wie geht es dir, mein Schätzchen?», fragte Seine Exzellenz, sobald er das Mädchen sah, und legte ihr einen Arm um den Nacken.
« Es geht mir gut, Gott sei Dank!», antwortete Morosina vollkommen ruhig.«Und Ihnen, Herr Pate?»
« Den Paten wollen wir uns schenken», versetzte er Inquisitor scherzend,«und deswegen habe ich auch schon an den Kardinal Rezzonico 90 in Rom geschrieben. Wir werden ein hübsches Brautpaar abgeben, weißt du das?»
Morosina hatte die Kraft zu lächeln.
« Also wahrhaftig, dieses Mädchen bringt mich ganz aus der Fassung, ich begreife es nicht», dachte Formiani. Laut setzte er hinzu:«Du brauchst dich vor deinem neuen Stand nicht zu fürchten, weißt du. Du wirst nur das Zimmer wechseln und hier neben mir wohnen, um desto bequemer deinen Dienst als Krankenwärterin bei mir versehen zu können, nicht wahr?»
« Ja, Exzellenz!», antwortete Morosina.
« Teufel!», dachte der Inquisitor wieder,«sollte ich siebzig Jahre alt geworden sein, um mich von einem kleinen Mädchen an der Nase herumführen zu lassen?» –«Nein, nein», sagte er wieder laut,«es ist besser, du bleibst, wo du bist, da hast du mehr Freiheit.»
« Wie Sie wünschen, Exzellenz... nein, Herr Pate.»
« Im Übrigen wird deine Lebensweise genauso sein wie in den letzten drei Tagen; nur wirst du mehr Freiheiten genießen, wie verehelichte Frauen sie in Anspruch nehmen dürfen und müssen. Du wirst empfangen, wen immer du willst, und wirst ausgehen, wie, wann und mit wem es dir beliebt... und du kannst sicher sein, dass ich kein Mann bin, der da nicht großzügig wäre. Familienangehörige, versteht sich, es sind zwar nur wenige, aber du hast welche: die Carmini, zum Beispiel, den Cavalier Terni. Nun, mit denen kannst du völlig zwanglos verkehren, ohne Rücksichten, die ohnehin lächerlich sind, darum schere ich mich gar nicht!»
Während dieser Rede Formianis wurde Morosina abwechselnd rot und blass. Der Podestà rieb sich immer wieder die Hände bei dem Gedanken, welches Glück es für seine Tochter war, einen so vorzüglichen Ehemann zu bekommen. Chirichillo seinerseits ließ sich keine Silbe dieser Ansprache entgehen, obwohl er so tat, als blicke er auf den Kanal hinaus; er verglich sie mit dem, was er vermutet hatte, und murmelte dann und wann:« Genauso habe ich mir das gedacht...! Was für ein Kuddelmuddel...! Nur gut, dass Morosina keine von denen ist!»
So vergingen etliche Tage, in denen sie ein äußerst zurückgezogenes Leben führte und nur Formiani zuliebe bei den Abendgesellschaften erschien.
Auch Cavalier Terni war dabei häufig zu Gast, doch sooft er auch im Saal auf und ab ging und Morosina mit zerknirschter Miene ansah, sooft er von der Terrasse auf den Balkon und vom Balkon auf die Terrasse lief, es gelang ihm nicht, auch nur ein einziges Wort unter vier Augen mit ihr zu wechseln. Ebenso erging es ihm bei den vielen Besuchen, die er ihr abstattete, er wurde nur vorgelassen, wenn Chirichillo oder ihr Vater an ihrer Seite waren; ebenso wenig Glück hatte er bei den seltenen Einladungen zu Tisch, obwohl sein Platz gewöhnlich an der Seite der jungen Braut war.
Da bewahrheitete sich an ihm das alte Sprichwort, das Ariost in seiner Allegorie von den zwei Quellen der Liebe dargestellt hat; 91 je kühler das Mädchen ihm gegenüber schien, desto mehr entfachte das sein Verlangen, sie sich gefügig zu machen. Und so sehr wuchs die Glut dieses Verlangens, dass dies sogar eine gewisse Läuterung in ihm bewirkte, denn in Seelen, die nicht gänzlich verdorben sind, löst sich eine große Leidenschaft, die sich mit aller Macht entfaltet, von den Schlacken der schlechten
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