Ein Engel an Güte (German Edition)
ihn also Valiner und fragte ihn, ob er ihn vielleicht vergessen habe.
« Ganz genau, mein Sohn!», antwortete dieser.« Und wo du schon einmal da bist... Du kannst lesen, nicht wahr?»
« Ja, Exzellenz!», antwortete der Kammerdiener.
« Gut, du kannst den Brief aufmachen und ihn mir vorlesen; aber langsam, wenn ich bitten darf, ich verliere leicht den Faden.»
Der Kammerdiener öffnete den Brief und las:« Hochverehrter Herr Gemahl!»
« Teufel, Teufel!», murmelte der Podestà«Und ich hatte sie doch tatsächlich völlig vergessen...! Lies nur weiter, mein Sohn.»
« Nicht ohne Grund sind Sie Podestà von Asolo», las der Kammerdiener weiter,«und nicht ohne Grund kassiere ich in Ihrem Namen die mit diesem hohen Amt verbundenen Gehaltsbezüge und Vergütungen.»
« Sie soll alles behalten! Ganz gleich. Sie soll nur alles behalten!», rief der Podestà und lief mit großen Schritten und mit den Armen fuchtelnd durchs Zimmer, als müsse er sich gegen Fliegen wehren.
« Wer Rechte hat, hat allerdings auch Pflichten», las der Diener weiter,«wie Justinian in dem Kapitel De obligationibus in seinen Istitutiones 95 sagt.»
« Danke für den Hinweis!», knurrte Valiner.
« Also müssen Sie Ihre Rechte verteidigen und sich mit allen Mitteln gegen die Anmaßung Dritter zur Wehr setzen, falls erforderlich auch unter Zuhilfenahme der Ordnungskräfte.»
« Ich?», wiederholte der Podestà mit wachsendem Erstaunen.
« Was nun bald notwendig werden könnte», fuhr der Diener fort,«da ich wieder eine ruchlose Verschwörung aufgedeckt habe, die gegen Mitte August in einem bewaffneten Aufstand ausbrechen wird, angestiftet in erster Linie von dem Grafen Fabio ...».
« Um Himmels willen! Genug! Genug!», schrie Valiner, riss dem Vorleser das Papier aus der Hand und zerfetzte es in winzige Stücke.«Um Himmels willen! Was schreibt dieses Weib mir nur, damit dieser besessene Graf mich eines schönen Tages womöglich noch bei lebendigem Leib rösten lässt!»
Auf dieses Gezeter hin kamen die Zofen herbeigelaufen und fanden den Gerichtsherrn von Asolo, wie er schreiend auf den Überresten dieses Blattes herumtrampelte, und den Kammerdiener, der sich den Bauch hielt vor Lachen. Wie sich leicht denken lässt, schlossen sie sich dem Letzteren an, und noch nie hat man geräuschvollere Heiterkeit neben komischerer Wut gesehen. Seit der Freilassung ihres Anbeters, die, wie von Formiani versprochen, am Tag nach seiner Verhaftung stattgefunden hatte, war Moretta noch heiterer als zuvor; und Adriana, obwohl in ihren Hoffnungen enttäuscht, für den Neapolitaner dasselbe zu erwirken, beruhigte sich doch bei den wiederholten Versprechungen Morosinas, man werde ihn bald laufen lassen und bis dahin mit aller erdenklichen Rücksichtnahme behandeln.
Wie man sieht, hatte Morosina über ihrem eigenen Leid den Kummer der anderen nicht vergessen, ja, diesen zu beheben war das einzige Mittel, ihre Gedanken an jenes loszuwerden. Mit frommer Beharrlichkeit suchte sie sich an das einförmige, beschauliche und einsame Leben zu gewöhnen, das sie sich in ihrem neuen Stand auferlegt hatte. Dem Gatten ließ sie alle Pflege angedeihen, derer er bedurfte, und leistete ihm in den wenigen von Staatsgeschäften freien Stunden liebenswürdig Gesellschaft. Den Vater sah sie im Lauf des Tages nur selten, doch diese seltenen Male freute sie sich an seiner Zufriedenheit, als ob diese ihr Werk wäre, und forschte auch nicht weiter nach, ob unmittelbarere Ursachen dafür nicht eher der Wein aus Conigliano oder die Schenken in der Umgebung sein könnten. An Celio dachte sie viel, gab sie sich jedoch auch viel Mühe, diese Gedanken zu verscheuchen; bald darauf aber kehrten sie wieder, einschmeichelnder und rührender denn je, und immer hallte ihr die Drohung im Ohr, die jene plötzliche Erscheinung ausgestoßen hatte und worin sie irgendein schreckliches Geheimnis verborgen wähnte, von dem sie sich aber keine Vorstellung machen konnte. Ihr einziger Trost war es dann, sich mit Chirichillo zu unterhalten, der lang und gern bei ihr verweilte und der, wenn er gegen seinen Willen von ihr getrennt sein musste, immer, auch von ferne, über dieses sein Herzenskind wachte.
Als Morosina den Cavalier Terni zum ersten Mal wieder in der Abendgesellschaft sah, war sie sehr überrascht, ihn nicht mehr so zerschlagen und abgezehrt zu finden, wie er ihr vor Tagen im grünlichen Widerschein des Spiegels erschienen war, und sie war erleichtert, denn da sie selbst sich für die
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