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Ein Engel an meiner Tafel - eine Autobiographie

Ein Engel an meiner Tafel - eine Autobiographie

Titel: Ein Engel an meiner Tafel - eine Autobiographie Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: C.H.Beck
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mich mit Mrs R., John Forrests Bekannter, in der Absicht, sie zu bitten, mir bei den Vorkehrungen für das Ziehen meiner Zähne behilflich zu sein und mich zum städtischen Krankenhaus zu begleiten; doch als ich mich bei ihr zu Hause in einem vornehmen Vorort einfand und sie, eine große hagere Frau, in Beige und Braun gekleidet, die Tür öffnete, berief ich mich im Gefühl der Unmöglichkeit, meine missliche Lage zu erklären – ich, die ich (mit geschlossenem Mund) dastand, eine blühende junge Frau von zweiundzwanzig Jahren ohne offensichtliche körperliche Mängel –, wieder voll auf meine «Schizophrenie»: Sie war zu meinem einzigen Mittel geworden, Interesse bei denen zu erwecken, deren Hilfe ich zu benötigen glaubte. Dennoch dauerte es noch mehrere Wochen, bis ich zu sagen vermochte, dass mein dringliches Problem meine schlechten Zähne waren. Mrs R. veranlasste freundlicherweise, dass meine Zähne im städtischen Krankenhaus gezogen wurden; sie würde mitkommen, sagte sie – und wäre es nicht eine gute Idee, wenn ich mich freiwillig in die Sunnyside-Nervenklinik einweisen lassen würde, wo es eine neue elektrische Behandlungsmethode gebe, die mir ihrer Ansicht nach helfen könnte? Also unterschrieb ich die nötigen Papiere.
    Ich wachte zahnlos auf, wurde in die Sunnyside-Klinik aufgenommen und mit der neuen elektrischen Methode behandelt, und plötzlich war mein Leben aus den Fugen geraten. Ich konnte mich an nichts mehr erinnern. Ich hatte panische Angst. Ich verhielt mich so, wie die anderen um mich sich verhielten. Ich, die ich die Sprache gelernt hatte, sprach diese Sprache und verhielt mich danach. Ich fühlte mich vollkommen allein. Es gab niemanden, mit dem ich hätte reden können. Wie in anderen Nervenheilanstalten war man eingesperrt, man tat gefälligst, was einem befohlen wurde, und damit basta. Meine Scham über meine Zahnlosigkeit, mein quälendes Gefühl des Kummers und Verlusts, mein Alleinsein, die Gewissheit, mit Junes Heirat noch eine Schwester zu verlieren – mir schien, als sei auf der Welt kein Platz mehr für mich. Ich wollte weg aus Sunnyside, aber wohin sollte ich gehen? Ich trauerte um alles, was verloren war – um meine Laufbahn als Lehrerin, meine Vergangenheit, mein Zuhause, wo ich, wie ich wusste, nie länger als ein paar Wochen bleiben konnte, um meine Schwestern, meine Freunde, meine Zähne, das heißt, um mich selbst als Person. Alles, was mir blieb, war mein sehnlicher Wunsch, Schriftstellerin zu werden, Gedanken und innere Bilder zu erforschen, die man als absonderlich missbilligte, und mein Ehrgeiz, der als verdächtig, als möglicher Wahn galt. Das Einzige, was ich schrieb, waren Briefe an meine Schwester und an meine Eltern und meinen Bruder, und diese wurden immer zensiert und manchmal nicht abgeschickt: Ich kann mich noch erinnern, dass ich einmal einen Brief an meine Schwester June verfasste,in dem ich in Wahrheit Virginia Woolf zitierte und schrieb, der Ginster habe einen «Erdnussbutterduft». Diese Darstellung wurde vom Arzt, der die Briefe las, mit Skepsis betrachtet und als Beispiel für meine «Schizophrenie» angesehen. Denn ich litt nun offiziell an Schizophrenie, obwohl kein Gespräch mit den Ärzten stattfand und keine Tests durchgeführt wurden. Ich war mir selbst in die Falle gegangen, im Wissen, dass eine Falle auch eine Zuflucht ist.
    Und nachdem ich mehrere Monate über den freiwilligen Aufenthalt hinaus in der Anstalt gewesen und schließlich in der geschlossenen Abteilung untergebracht war, bedeutete dies den Anfang der Jahre im Krankenhaus, die ich bereits beschrieben habe, wobei ich, wie bereits erwähnt, nur die tatsächlichen Ereignisse und die realen Menschen und Orte ausführlich geschildert habe, nicht aber mich selbst, außer meinem Gefühl der Panik ganz einfach darüber, dass mich Leute eingesperrt hatten, die mich ständig daran erinnerten, dass das Urteil «lebenslänglich» war, und als die Jahre vergingen und die Diagnose die gleiche blieb, ohne dass irgendjemand sie offenbar auch nur anhand offiziell gültiger Befragungen oder Tests in Frage gestellt hätte, empfand ich Hoffnungslosigkeit über meine Zwangslage. Ich bewohnte ein Reich der Einsamkeit, das wohl dem Ort ähneln muss, an dem die Sterbenden die Zeit vor ihrem Tod verbringen und von wo diejenigen, die lebend in die Welt zurückkehren, unweigerlich einen außergewöhnlichen Standpunkt mitbringen, der ein Alptraum ist, ein Schatz und ein lebenslanger Besitz; manchmal

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